Freitag, 30. Oktober 2015

Interview mit dem Tod - Jürgen Domian (Rezension)

Ein Plädoyer für mehr Tod im Leben


  • Autor: Jürgen Domian
  • Verlag: Goldmann
  • Erschienen: 20.Oktober 2014
  • Seitenanzahl: 176
  • Preis: 9,30 Euro (Taschenbuch)
  • ISBN: 978-3-442-17493-5

Über den Autor

Jürgen Domian (*1957) in hat Germanistik, Philosophie und Politikwissenschaften studiert, und führt sein nunmehr 19 Jahren durch seine nächtliche Talkshow "Domian" im WDR Fernsehen und im Radio bei 1live. Jede Nacht ist er Kummerkasten und Seelsorger für viele Menschen die in seiner Sendung Halt und Hilfe suchen. "Interview mit dem Tod" gingen bereits zwei weitere Romane voraus. Ende 2016 wird er seine Sendung aufgeben, weil er nach 20 Jahren "das Tageslicht wieder sehen will".


Inhalt

Wer oder was ist der Tod? Welche Bedeutung hat Trauer in unserer Gesellschaft? Warum wird dem Sterben in anderen Kulturen offener begegnet? Diesen Fragen geht Jürgen Domian auf den Grund, und kreiert in seinem Buch ein fiktives Gespräch mit Gevatter Tod höchstpersönlich. In den vielen Gesprächen, die der "Nachtfalke des WDR" in seiner nächtlichen Talksendung geführt hat, befasst ihn ein Thema immer wieder: das Sterben. Nun konfrontiert er den Tod mit seinen Erfahrungen, Erlebnissen und offenen Fragen - und erhält überraschende Antworten. Es entsteht ein emotionaler Schlagabtausch zwischen Leben und Tod, Übermacht und Mensch; es geht um die Frage nach Gott, die Seele und das Jenseits. Dabei plädiert Domian für die Legalisierung von aktiver Sterbehilfe, erläutert die Palliativmedizin und stellt Jenseitsvorstellungen anderer Glaubensrichtungen dar. Er schildert seine eigenen Erfahrungen mit Sterben und Religion, denn schon als Kind interessierte ihn die Endlichkeit des Lebens sehr. Mit dem nötigen Abstand von konventionellen Vorstellungen vom Ende des Lebens lockt Domian den Tod aus der Reserve, bohrt störrisch nach Antworten, und verzweifelt an den an Weisheit weit überlegenen Aussagen des Todes. Vor allem aber wehrt er sich gegen die Tabuisierung des Todes: sein Interview rückt dem Tod in die Mitte unserer Gesellschaft, denn er ist mehr als nur eine Randerscheinung unseres Daseins.


Persönliche Meinung

Kann man mit dem Tod sprechen und wenn ja, was würde man ihm sagen? Domian traut sich an dieses schwierige Thema heran, und führt eine heikle Auseinandersetzung den größten Mysterium unserer Existenz. Es sind Domains ganz persönliche Gedanken über das Ende des Lebens, die er in seinem Buch verarbeitet und kontrovers diskutiert und Denkanstöße liefert. Auch aber ist es ein Ruf nach der Aufmerksamkeit der Gesellschaft für ein Tabuthema, ein Plädoyer für mehr Tod im Leben. Die Macht des Todes nährt sich von der Angst der Menschen, Domain will ihnen die Furcht nehmen. Ein Buch für all die, die dem Tod schonmal vorab persönlich begegnen wollen, und ein Appell, sich von Stigmata zu verabschieden.
"Auch das geht vorbei", sagt der Tod am Ende des Gesprächs, denn bevor er an der Haustür klingelt, sollen die menschen das Leben genießen.

Ich bin einer großer Domian-Fan, und verfolge seine Talkshow regelmäßig. Ein Grund mehr zur Freude, dass "Interview mit dem Tod" ab dem 19.11.2015 in den deutschen Kinos in Form eines Dokumentarfilms zu sehen sein wird!

Sonntag, 18. Oktober 2015

tschik - Wolfgang Herrndorf (Rezension)

Langweiler und Mafia-Mongole erleben den verrückteste Road-trip aller Zeiten

  • Autor: Wolfgang Herrndorf
  • Verlag: Rowohlt Taschenbuch
  • Erschienen: 2010
  • Seitenanzahl: 254
  • Preis: 8,99 Euro (Taschenbuch)
  • ISBN: 978-3-499-25635-6

Über den Autor

Wolfgang Herrndorf (*1965) hat Malerei studiert, und zeichnete unter anderem für das Satiremagazin "Titanic. Auf seinen 2002 erschienen Debütroman "Plüschgewitter" folgte der Erzählband "Diesseits den Van-Allen-Gürtels" und 2010 der Überraschungserfolg "Tischik". Herrndorf wurde u.a. mit dem Deutschen Erzählpreis (2008), dem Brentano-Preis (2011), dem Jugendliteraturpreis (2011), dem Hans-Fallada-Preis und dem Leipziger Buchpreis (2013) ausgezeichnet. Er litt an einen Hirntumor und nahm sich am 26.August 2013 das Leben.


Inhalt

Als ob das Teenager-Dasein sein nicht schon schwer genug, die Enttäuschung in der ersten großen Liebe ausreichend deprimierend, und eine alkoholkranke Mutter reichlich anstrengend wäre, lässt sein Vater Maik in den großen Ferien auch noch ganz alleine in der großen Villa mit Pool zurück, um im Liebesurlaub mit seiner Affäre zu fliehen. Maik Klingenberg ist vierzehn Jahre alt, geht aufs Gymnasium und ist ein Langweiler; das finden nicht nur seine Klassenkameraden sondern auch das schönste Mädchen der Welt, Tatjana, das ihn nicht zu seinem tiefsten Enttäuschen nicht zu ihrer Geburtstagsparty einlädt. Nur Andrey Tschicharow, der neue in der Klasse, mit seinem exotischem Aussehen, der Alkoholfahne und dem einschüchternden Aussehen findet Maik interessant. Mit Tschicks geklautem Lada fahren die beiden zu erst zu Tatjanas Party, und dann weiter in die Ferne, mit Kurs auf die Wallachei. Raus aus der Tristesse Berlins, das Leben suchen und etwas erleben. Natürlich weiß keiner von beiden auch nur ansatzweise wo Rumänien liegt, und so kurven sie die endlosen Landstraßen der deutschen Provinz entlang. Dabei treffen sie auf Isa, das Mädchen von der Müllkippe, und Fritz, den Weltkriegsveteran der sie in einer Geisterstadt mit einem Gewehr beschießt, oder die dicke Sprachtherapeutin, die den Feuerlöschen auf Tschicks Fuß fallen lässt, nachdem sie mit dem Lada eine Böschung heruntergebollert sind. So absurd und völlig aberwitzig ihre Reise auch ist, sie beschert Tschick und Maik den besten Sommer ihres Lebens. Zwei Jungs, die unterschiedlicher nicht sein könnten, begeben sich auf den verrücktesten Road-trip aller Zeiten, und finden tiefe Freundschaft zueinander.

"'Du siehst aus wie 'n Schwuler, dem sie über Nach die Einfahrt vollgekackt haben. Soll ich dich wohin fahren oder willst du lieber noch ein bisschen mit dem Wasser spritzen?' Er grinste sein breites Russengrinsen. 'Steig ein, Mann.' Aber natürlich stieg ich nicht ein. Ich war ja nicht völlig verrückt. Ich ging nur kurz hin und setzte mich halb auf den Beifahrersitz, weil ich nicht so auffällig in der Einfahrt rumstehen wollte." (S.82)

Persönliche Meinung

Es sind zwei völlig verschiedene Lebenswirklichkeiten, die aufeinander prallen: Maik sitzt in der Einöde aus Sehnsucht nach Tatjana, Langeweile und grenzenloser Enttäuschung in der Luxusvilla seiner Eltern fest, und Tschik, der dubiose Mongole aus der Hochhaussiedlung in Hellersdorf, hat einen Bruder in der Russen-Mafia und einen geklauten Wagen. Mit dem wollen sie eigentlich nur 'in den Urlaub fahren, wie normale Leute', und erleben dabei den aufregendsten Sommer ihres Lebens. Beim Fahren auf der Autobahn, dem Benzinklau an der Tankstelle oder auf der Flucht vor der Polizei wächst Maik über sich hinaus, ihn packt die Abenteuerlust, und beide wünschen sich dass ihre Reise niemals endet. Aber der Zusammenprall mit dem Schweinelaster zieht Tschik und Maik aus dem Verkehr. Polizeirevier, Krankenhaus und Gerichtsverhandlung folgen, aber an den unvergesslichen Erlebnissen und ihrer Verbundenheit kann nichts mehr etwas ändern. Maik, der Antiheld,  Loser der Schule und Versager, hat durch Tschick zu leben gelernt.
Beim lesen habe ich die ganze Zeit auf den tieferen Bedeutung der Reise, der Begegnungen und der Geschichte gewartet, ich wollte wissen wer Isa von der Müllkippe wirklich ist, warum Fritz wahrlos auf Menschen schießt und ob aus Maik und Tajana noch ein Paar wird. Aber es gab keine tiefere Sinngebung, und das ist gut so. Es ist eine Geschichte von der Spontanität des Lebens, kurzweilig urkomisch und voller Sehnsucht nach Freiheit.
"Tschick" wird mittlerweile auch an deutschen Schulen im Deutschunterricht gelesen. Ich halte das Buch ideal für Teenager, es ist modern, die angesprochenen Probleme alltagsnah, und die Sprache nah am Jugendjargon.

Herrndorfs Erfolgsroman wird derzeit verfimlt, und kommt voraussichtlich am 15.09.2016 in die Kinos. Ein ideales Buch für einen actiongeladenen, rasanten Kinder- und Jugendfilm!



Dienstag, 13. Oktober 2015

Er ist wieder da - Kinofilm

Erschreckend realistisch umgesetze Verfilmung einer kontrovers diskutierten Romanvorlage

Romanvorlage 

  • Autor: Timur Vermes
  • Verlag: Eichborn 
  • Erschienen: 21.September 2015
  • Seitenanzahl: 396
  • Preis: 19,33 Euro
  • ISBN: 978-3-485-02815-8 

Vermes' Roman spaltet Deutschland in zwei Meinungen: In einigen Talkshows diskutiert, provoziert der Roman mit der Frage: Darf man mit Hitler lachen? Das Cover zeigt den Titel auf weißem Hintergrund dargestellt als typischen Hitler-Bart, und der Preis des Buches spielt auf sie Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 an. In der Geschichte sympathisiert der Leser mit der Schreckensfigur, und verliert die Distanz zu seinen Gräueltaten. Nichts desto trotz ist der Humor des Autors, mit dem er Hitler das Internet, Fernsehen und die Gesellschaft erkunden lässt unvergleichlich und zum schreien komisch. Die filmische Umsetzung ist eine Erweiterung des Rahmens, der einer Reportage über das menschliche Geschichtsbewusstsein in Form einer unterhaltsamen Polit-Satire nahe kommt.




Kinofilm

  • Kinostart: 08.Oktober 2015
  • Länge: 1h 56 min
  • Altersbegrenzung: freigegeben ab 12 Jahren
  • Gernre: Parodie & Satire
  • Regisseur: David Wnendt
  • Darsteller: Oliver Masucci, Fabian Busch, Christoph Maria Herbst, Katja Riemann, Michael Kessler
  • Produktionsland: Deutschland

Handlung

Wir schreiben das Jahr 2014, der erste Weltkrieg jährt sich zum hundertsten Mal und der zweite ist längst aus den Bewusstsein vieler Menschen verschwunden. Da taucht plötzlich mitten auf einem Berliner Grünstreifen ein Mann mit Offiziersmütze, Uniform und Bärtchen auf, der den Weg zur Reichskanzlei wissen will und darauf besteht, mit 'Führer' angesprochen zu werden. Es ist Adolf Hitler, der in seiner wahrhaftigen Gestalt mit alter Grausamkeit und Ideologie fast 70 Jahre nach seinem vermeintlichen Tod im Deutschland der Neuzeit angekommen ist. Doch alles ist anders als 1945: Der Türke ist in Berlin angekommen und eine "klobige Frau mit dem Gesichtsausdruck einer Trauerweide" regiert die sogenannte Bundesrepublik. In einem Zeitungskiosk gestrandet, mit der Studie der aktuellen Geschehnisse beschäftigt, beschließt er, seiner Vorsehung zu folgen und die Menschen endlich unter seiner Macht zu vereinen.
Am anderen Ende der Stadt verliert gerade der hoffnungslose Filmemacher Fabian  seinen Job, und erkennt seine Chance zum beruflichen Neueinstieg, als er auf die vermeintliche Reinkarnation Hitlers trifft. So beginnt eine verrückte Reise durch ganz Deutschland, eine Bestandsaufnahme der Haltungen der Menschen gegenüber der aktuellen Politik. Mit original Mitschnitten der Begegnungen verwandelt sich der Film von einer komödiantischen Satire zu echter Gesellschaftskritik und erschreckender Warnung. Ob an im Fischrestaurant auf Sylt, bei der Hundezüchterin auf dem Land oder NPD-Aufmärschen, die Zustimmung und die Verdrossenheit gegenüber den aktuellen Lage ist enorm. Zwar glaubt keiner an seine Echtheit, trotzdem überkommt dem NPD-Vorsitzenden bei der Begegnung mit Hitler der Nationalstolz und das Ehrgefühl, und auch der Tenor der Mittelschicht tendiert in Richtung Fremdenhass und Intoleranz. Stammtischparolen und Pauschalisieren, Reaktionen, die Oliver Masucci in seiner Rolle provoziert, aber deutliche Zustimmung erfährt. Masucci, stets in seiner Rolle mit ernstem Blick und Starrsinn, hält uns mit dieser Bestandsaufnahme den Spiegel vor und zeigt: Es ist mehr rechtes Gedankengut vorhanden als wir denken mögen, und stellt uns vor die Frage: Wie würden wir reagieren wenn Hitler tatsächlich wieder in die Mitte unserer Gesellschaft treten würde? Würden auch wir ihn zum Fernsehstar machen, oder die Gefahr erkennen? Anhänger seiner Ideologie gäbe es scheinbar genug...

Persönliche Meinung 

Bereits Timur Vermes' Romanvorlage wirft Kontroversen auf: darf man statt über, mit Hitler lachen? Im Buch sympathisiert der Leser automatisch mit dem etwas hilflosen und mitleiderregenden Hitler, der beim Fernsehschauen am versäumte Propagandapotenzial für die deutsche Bevölkerung verzweifelt, oder auf die Frage nach seinem Namen immerfort und mit eisernem Blick 'Hitler, Adolf' antwortet. Der Film aber schweift von der eigentlichen Geschichte ab, und ergänzt die Handlung durch die Investigation der Bevölkerung, und wirkt dadurch erschreckend authentisch. Er stellt vordergründig nicht die Frage nach der Emphatie für Hitler, sondern nach dem Gefahrenpotenzial der Gesinnungen unserer Mitbürger. Besinnunglos gehen die Probanden aus dem Videomaterial auf Hitlers provokante Parolen ein, schimpfen auf die Regierung und verlangen Fotos und Selfie mit dem Diktator. In wie weit sind wir fähig, rechte Strukturen in unserer Gesellschaft früh genug zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken? Ist Deutschland nicht längst von Rechten unterwandert, und in wie weit können wir uns überhaupt von unserer Vergangenheit befreien? Lässt das Buch das Ende offen und bereitet den Weg für eine Fortsetzung, schließt der Film mit einem vernichtenden Urteil über die historische Reflexionsfähigkeit unserer Gesellschaft.  Im Gegenzug zeigt der Film auch Sequenzen, in denen sich die Menschen von Hitler abkehren, ihn beschimpfen und ihre Angst zeigen; mehrheitlich sind sie aber begeistert von der kommerzialisierten Figur, der Hetze gegen das vermeintliche Übel für das deutsche Kulturgut. Hitler wird im Jahr 2014 zum Internetstar, die Sender streiten sich um sein Programm, und auch Fabian schöpft das Potenzial für seine Karriere aus. Letztendlich ist er der einzige, der die drohende Gefahr erkennt. Allerdings wird er von der Sensationsgier und Besessenheit der Zuschauer übermannt, und sorgt für einen dramatischen Ausgang der Komödie.
Viele Fans hatten sich zwar Christoph Maria Herbst, der bereits das Hörbuch eingelesen hatte, als Hitler-Darsteller gewünscht. Herbst hätte Rolle mit seinem unvergleichlichen Akzent wahrscheinlich noch realistischer verkörpern können. Aber Oliver Masucci beweist großes schauspielerisches Talent wenn er in keinem der Interviews mit den Bürgern oder als Gast in den verschiedenen bekannten Talksendungen aus seiner Rolle fällt. Der Film punktet zudem mit vielen prominent besetzten Nebenrollen, wie Katja Riemann und Christoph Maria Herbst als erfolgsorientierte Senderchefs, oder Frank Plasberg und Jörg Thadeusz, die ihre eigenen TV-Shows nachstellen. Vor allem aber überzeugt er durch seine Verbindung von Fiktion und Realität, es ist eine politische Investigation, die Angst macht, aber wachrüttelt. Der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt, eine Warnung, die wir ernst nehmen sollten.

Sonntag, 11. Oktober 2015

Arnes Nachlass - Siegfried Lenz (Rezension & Filmkritik)

Rührende Tragödie - hinreichende filmische Umsetzung

  • Autor: Siegfried Lenz
  • Verlag: dtv
  • Erschienen: 1999
  • Seitenanzahl: 208
  • Preis: 8,90 Euro
  • ISBN: 978-3-423-12915-2

Über den Autor

Siegfried Lenz wurde 1926 in Ostpreußen geboren und wird zu den berühmtesten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit gezählt. Er lebte als freier Journalist in Hamburg bis er im Oktober 2014 starb. Er schreibe eine Vielzahl von Romanen und veröffentlichte Erzählungen; zu seinen berühmtesten Werken gehört die „Deutschstunde“, die in verschiedenen Sprachen übersetzt und verfilmt wurde.

Inhalt

Arne ist anders als die meisten Kinder in seinem Alter, er ist besonders. Nach dem Bankrott seiner Firma will sein Vater erst sich selbst und dann seine Familie töten, doch Arne kann auf sonderbare Weise überleben. Er lebt fortan bei einem befreundeten Ehepaar und dessen Kindern, Lars, Hans und Wiebke, an der Hamburger Elbe. In der Schule ist er zunächst ein Außenseiter, und auch Lars und Wiebke wollen sich nicht mit ihm abgeben, nur in Hans findet er einen Freund. Schnell erweist er sich als echtes Sprachtalent und Wunderkind, doch mit seiner ruhigen, wissbegierigen und rücksichtsvollen Art ist er seinen Altersgenossen weit voraus und überfordert sie in seiner Reife,Weitsicht und Moral. Sein größter Wunsch ist es, endlich seinen Platz in der Welt zu finden, dazuzugehören. Als er bei der Restauration eines alten Schiffes mitwirken darf, ist er mit vollem Eifer dabei, aber bei der Einweihung passiert ihm ein Missgeschick. Blind vor Zuneigung zu Wiebke, und benommen von dem Drang nach Bestätigung begeht er einen großen Fehler als er geplagt von seinen Schuldgefühlen auf eine folgenschwere Mutprobe eingeht.
In der Szenerie des Hamburger Hafens spielt sich die Tragödie um einen außergewöhnlichen Jungen ab, der verzweifelt um Anerkennung kämpft, und am Leben scheitert.

"Ach Arne, an diesem Abend brachte ich es anfangs nicht fertig, dein Hinterlassenschaften einfach einzusammeln und still wegzuräumen und für unbestimmte Zeit in die ewige Dämmerung des Bodens zu verbannen. Zuviel kam da herauf und bot sich an, jedes Ding bezeugte etwas, gab etwas preis, wie von selbst stiftete es dazu an, Vergangenheit zum Reden zu bringen." (S.8)

Persönliche Meinung

Lenz nutzt in dieser besonderen Erzählung keine Anführungszeichen, lässt die wörtliche Rede ohne Kennzeichnung, und zieht den Leser damit in den Sog der Ereignisse. So plötzlich Arne auf die neue Familie trifft, so tief sind die Spuren die er hinterlässt. Seine Geschichte wird aus der Sicht von Bruders Hans erzählt, der beim Verstauen des Nachlasses von den vielen gemeinsamen Erinnerungen und Erlebnissen erzählt. Leise und still war Arne in die Familie gekommen, kraftvoll und laut verlässt er sie wieder.
Mit der Geschichte des kleinen großen Jungen, der mit seiner Unbedarftheit und Selbstbestimmung Wellen bricht, und im Sturm darin untergeht, hält Lenz der Gesellschaft in ihrer Engstirnigkeit und Ignoranz gegenüber dem Andersartigen den Spiegel vor.




Vergleich mit Verfilmung

  • Genre: Drama
  • Produktionsland: Deutschland
  • Jahr: 2013
  • Regie: Thorsten Schmidt

Der Film glänzt zwar mit vielversprechender schauspielerischer Leistungen von Susanne von Borsody, Jan Vedder und Max Hegewald in extrem feinfühliger Verkörperung des Arne, aber die Umsetzung zeigt: modern ist nicht immer besser. Wiebke und Lars schlagen sich die Nachmittage mit saufen und rauchen um die Ohren und Hans erinnert eher an einen Proll als an den verantwortungsbewussten Ältesten aus dem Buch. Der Zauber der Geschichte verliert durch die Neuinterpretation der Charaktere seine Wirkung. Auch Schlüsselfigur Kalluk, ein Arbeiter aus der Firma der Familie, ein schweigsamer und seltsamer Ex-Häftling, der sich durch besondere Bindung zu Arne auszeichnet, wird hier als lustiger, verschrobener Kerl dargestellt, und die Beziehung zwischen den beiden nur oberflächlich beleuchtet. Ein wichtiger Bestandteil des Films ist jedoch die drohende Pleite des Familienunternehmens: Die Sorge um die Zukunft der Firma wird zwar wichtig als sich die Situation um Arne und Wiebke zuspitzt, aber im späteren Verlauf nicht mehr aufgegriffen. Auch der Rahmen der Erzählung, das Verstauen der Habseligkeiten Arnes, wird hier nur in der Schlusssequenz verpackt, und keine große Bedeutung geschenkt.  So auch Arnes Verbindung zu Hans, die sich im Buch zärtlich aufbaut, hier aber nur eine Nebenrolle spielt. Hans ist wider erwarten nicht der sensible, reife und aufmerksame Wegbegleiter, sondern unterstützt Arne eher nebenbei. Wollen die Filmemacher die Geschichte auf der einen Seite in die Moderne übertragen, spielen sie doch mit längst überholten Geschlechterklischees in der Beziehung zwischen Mutter und Vater.
Allerdings setzt der Film die Szene um den Selbstmord des Vaters und der Familie um. Er eröffnet mit der Tragödie um Arnes Familie, stellt sie als Horrorszenario am heimischen Abendbrottisch dar: der Vater mischt Gift in den Eistee, aber Arne verschüttet sein Glas. In seinen Erinnerungsfetzen holen ihn diese Bilder immer wieder ein; es sind Black-out-Momente, in denen er sich in seine Kindheit zurückversetzt fühlt. Die Liebe zu einer seiner verlorenen Schwestern wird hier aber unnötig betont, so bildet sich Arne ständig ein, sie vor sich zu sehen, und auch in Wiebke sieht er das Ebenbild ihrer. Mit der Projektion der verstorbenen Schwester wird die nötige Dramatik erzeugt, die der Film mit seiner modernen Interpretation der Geschichte nicht aufbringt. So auch Arnes Verbindung zu Hans, die sich im Buch zärtlich aufbaut, hier aber nur eine Nebenrolle spielt. Hans ist wider erwarten nicht der sensible, reife und aufmerksame Wegbegleiter, sondern unterstützt Arne eher nebenbei. Wollen die Filmemacher die Geschichte auf der einen Seite in die Moderne übertragen, spielen sie doch mit längst überholten Geschlechterklischees in der Beziehung zwischen Mutter und Vater.
Um die Einsamkeit und Labilität Arnes in den Vordergrund zu setzen, hätte man den Fokus des Films mehr auf die zwischenmenschlichen Beziehungen und emotionalen Momente aus der Romanvorlage, als auf die Übertragung in die Moderne legen müssen.




Sonntag, 4. Oktober 2015

25 Jahre geeintes Deutschland - die Geschichte vom Wunsch nach Einigkeit

Beitrag zur Entwicklung des Nationalstaatsgedankens und der friedlichen Revolution in der DDR im Rahmen einer Feierstunde anlässlich des 25.Tags der Deutschen Einheit:

„Ab morgen Nacht sind wir 45 Jahre nach Kriegsende wieder für unser Schicksal verantwortlich. (…) Die Nachkriegszeit ist endgültig vorbei.“, so berichtete die Tagesschau am 01.10.1990. Wieder 25 Jahre später können wir Schüler uns ein Leben in einem geteilten Deutschland nicht mehr vorstellen; ein System, gebaut auf Unfreiheit und Repression - weit weg von unserer Lebenswirklichkeit. Die Deutsche Einheit scheint wie die Erfüllung der Geschichte unseres Landes, die Verwirklichung des Wunsches nach einem Nationalstaat, der sich wie ein roter Faden durch unsere Geschichte zieht. Der Weg zu dem heutigen Deutschland ist von vielen Irr- und Umwegen gezeichnet, und geprägt von dem Streben nach Einheit.

Es ist kein übersteigerter Patriotismus, sondern vielmehr den Umständen im Deutschland nach dem Wiener Kongress geschuldet, dass Hoffmann von Fallersleben im Jahr 1840 komponiert:
„Einigkeit und Recht und Freiheit für das Deutsche Vaterland
Danach lasst uns alle Streben, brüderlich mit Herz und Hand“
Territoriale Einheit für die Einzelstaaten, die Deutschland wie einen Flickenteppich zusammensetzten; Eine Verfassung nach den Idealen der Französischen Revolution auf Basis von Menschenrechten und Demokratie sowie Freiheit für einen geeinten Deutschen Staat.
Deutschland ist längst eine Kulturnation, vereint durch Sprache, Werte und Vergangenheit, die Bestrebungen zur territorialen Einheit unter gemeinsamer Regierung werden jedoch im Zuge der Angst vor einer Hegemonialstellung Deutschlands in Europa unterbunden. Pressezensur, Überwachung und Bestrafung für regimekritische Äußerungen sind die Instrumente der politischen Repression. Die Karlsbader Beschlüsse leiten die Biedermeierzeit ein, und damit die Anpassung der Gesellschaft an die bestehenden Systeme, die Flucht ins Private und Bürgerliche als Rückzug aus den politischen Geschehnissen der Zeit. Doch die revolutionären Kräfte in Deutschland können nicht unterbunden werden, Kundgebungen wie das Wartburgfest oder das Hambacher Fest sind Ausdruck des Dranges  nach Souveränität und Einheit. Künstler, das liberale Bürgertum, Akademiker und Mitglieder der verbotenen Burschenschaften demonstrieren unter Schwarz-rot-goldener Fahne gegen die europäische Politik zur Wahrung der Pentarchie unter den Großmächten. Die Proteste gipfeln in der Deutschen Revolution, in der eine konstituierende Versammlung die Verfassung eines geeinten Deutschen Staates auf Basis einer parlamentarischen Monarchie schaffen soll. Doch auch hier werden die Hoffnungen der Bürger nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch den preußischen König enttäuscht. Nach dem Scheitern der Revolution wird durch die Einigungskriege gegen Dänemark, Österreich und Frankreich die Einigung Deutschlands erreicht – mittels Gewalt und  Annexionen. Die Kaiserreichsgründung im Jahr 1871 erfolgte noch in den Wirren des Deutsch-Französischen Kriegs, die Proklamation begleitet von Militärs. Zwar soll eine Parlamentarische Monarchie nach dem Vorbild der Deutschen Revolution die Meinung des Volkes im Reichstag repräsentieren, doch die Ambivalenz im Verfassungssystem schreibt der Volksvertretung nur eingeschränktes Mitbestimmungsrecht zu. Nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Zuge der Eroberungskriege Napoleons im Jahr 1806 wird Deutschland nach 65 Jahren wieder zu einem souveränen Nationalstaat. Doch der aufkommende Imperialismus der europäischen Großmächte und die „Platz-an-der- Sonne- Politik“  Willhelm des II. stürzt die Welt in die Urkatastrophe des 20.Jahhunderts, den 1.Weltkrieg. Das Kaiserreich verliert den in seinen Dimensionen ungeahnt grausamen Krieg, und wird im Waffenstillstandsabkommen zu einer Neuordnung in einer parlamentarischen Staatsform aufgefordert. In den revolutionären Unruhen im November 1918 wird die Weimarer Republik gegründet, die nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 in einer nationalsozialistischen Diktatur endet. Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust kennzeichnen das wohl dunkelste Kapitel der Deutschen Geschichte. Nach der bedingungslosen Kapitulation im Mai ’45 verliert Deutschland erneut seine Staatlichkeit. Die Terrorherrschaft ist vorüber, doch die Zukunft eines gesamten Volkes ungewiss. Wieder wird das deutsche Territorium aufgeteilt und auseinandergerissen. Die Besatzungszonen der Alliierten ebnen den Weg für die Teilung Deutschlands. Im Westen des Landes entsteht die Bundesrepublik Deutschland und im Osten mit der Deutschen Demokratischen Republik ein Sattelitenstaat der Sowjetunion. Ein Land unter dem Demokratiebegriff des Kommunismus, ein totalitäres Regime, Planwirtschaft.

Der Weg in den „goldenen Westen“ scheint für viele die bessere Alternative zum sozialistischen System der DDR zu sein. Als Reaktion auf die Massenfluchtbewegungen und auf die Gefahr des Ausblutens ihres Staates hin lässt das SED-Regime die Grenze zur DDR abschotten. Aus der Aussage „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten“ entsteht in der Nacht zum 13.August 1961 die Berliner Mauer. Nach der Zweiteilung eines Landes wird hier eine Stadt auseinandergerissen, Familien getrennt und Schicksale besiegelt. Während im Westen das Wirtschaftswunder der fünfziger Jahre floriert, sind im Osten Nahrungsmittel knapp, die Menschen unzufrieden. Die Frustration spiegelt sich im Volksaufstand vom 17.Juni 1953, in der DDR-Bürger ihren Unmut gegenüber der Regierung äußern.
Ein Beteiligter erinnert sich: „Die Situation unserer Kollegen wurde kurz bekannt gegeben. Innerhalb ganz kurzer Zeit kamen die Kollegen, in Arbeitskleidung, so wie wir waren in Holzpantinen, und nur mit Hemd usw. bekleidet. Dann haben wir uns formiert zu einem Zug von etwa 300 bis 500 Leuten und sind auf der Straße zum Krankenhaus marschiert.“ Der Versuch eines Historikers die Beweggründe der Aufständischen zu formulieren lautet: „Die Bauarbeiter  agierten als Kämpfer ohne Pathos. ’Kollegen, reiht euch ein – wir wollen freie Menschen sein!’ Es ging nicht um die Verwirklichung einer fremden Idee sondern um die Realisierung einer eigenen, menschenwürdigeren Existenz. Nicht das Versprechen der Freiheit, sondern die unmittelbare Handlungsfreiheit, hier und jetzt: Runter vom Gerüst, ran an die Regierung, raus aus den Gefängnissen, rüber über die Grenze – der Drang nach elementaren Freiheiten als Unterpfand der großen allgemeinen Freiheit, das war das bewegende Motiv der Bauarbeiter und des ganzen Volksaufstandes.“ Für die Forderungen nach Freiheit und Demokratie nach dem Vorbild des Westens lassen mehr als 50 Menschen ihr Leben, das SED Regime lässt in Berlin Panzer auffahren um die Demonstration aufzulösen.



Berthold Brecht reflektiert den Aufstand in gekonnt pointierter Weise:


„Die Lösung: Nach dem Aufstand des 17.Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes
In der Stalinallee Flugblätter verteilen,
auf denen zu lesen war, dass das Volk
das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
nicht einfacher, die Regierung
löste das Volk auf und
wählte ein anderes?

In der fatalistischen Ironie des Gedichts zeigt sich die gesamte Paradoxie der Lage im sozialistischen Staat.

Auch Liedermacher Wolf Biermann, 1953 freiwillig in die DDR übergesiedelt, denkt nun ähnlich über die praktische Verwirklichung seiner kommunistischen Ideale. In der Retrospektive resümiert er: „Diese Hoffnung auf ein kommunistisches, soziales Paradies ist nach meiner heutigen Meinung der sichere Weg in schlimmste Höllen.“ Seine Ausbürgerung im Jahr 1976 bricht wie eine Welle über die Szene der Musiker und Künstler herein und gipfelt am 4.November 1989 in der größten Protestdemo der Geschichte des Staates. Seine Worte „Wer sich nicht in Gefahr begibt kommt darin um“ hallen bei den DDR- Bürgern nach. Eine halbe Millionen Menschen versammeln sich auf dem Alexanderplatz – Wortführer sind Prominente wie Schauspieler Jan Josef Liefers, Ulrich Mühe oder Katharina Thalbach. Aber Oppositionelle und Aktivisten versammeln sich schon seit 1981 in der Leipziger Nikolaikirche zu wöchentlichen Friedensgebeten, im Herbst 1989 sind es bis zu 70.000 Menschen. Mit der Parole „Wir sind das Volk“ ziehen jetzt Hunderttausende im ganzen Land bei den Montagsdemonstrationen mit Kerzen und Plakaten auf die Straße, um friedlich für ein geeintes Deutschland zu protestieren. „Wir hatten alles geplant. Wir waren auf alles vorbereitet. Nur nicht auf Kerzen und Gebete.“, so SED-Politiker Horst Sindermann.  Es war die Gewaltfreiheit und der Sanftmut der Demonstranten die den Weg zur friedlichen Revolution mit dem Fall der Berliner Mauer am 09. November ebnen. „Wir Deutschen sind jetzt das Glücklichste Volk der Welt“ reflektiert bereits einen Tag später Politiker Walter Momper und betont dabei die Einheit des Deutschen Volkes ein Jahr vor der eigentlichen Wiedervereinigung.
Am 3.Oktober weht die Schwarz-rot-goldene Flagge auf dem Reichstagsgebäude in West-Berlin, und vereint die versammelten Menschenmassen beider Staaten unter ihrem Zeichen. Sie ist das Symbol  für das endlich wiedervereinigte Deutschland und die Erfüllung der Losung der Friedlichen Revolution „Wir sind EIN Volk“.

Nicht nur damals sind Menschen vor Gewalt, Repression und Unfreiheit geflohen, heute suchen mehr Menschen denn je Zuflucht in Deutschland. Die Deutsche Außenpolitik übernimmt große Verantwortung im Weltgeschehen dieser Tage. Die Regierung der Bundesrepublik dient als internationales Vorbild, die Demokratie auf der Basis von Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Menschenrechten ist Ausdruck der langen Bestrebungen nach Deutscher Einheit unter diesen Aspekten.
Doch auch heute gehen Menschen montags auf die Straße und demonstrieren gegen die herrschende Regierung. Sie rebellieren nicht gegen die Erhöhung von Arbeitsnormen, Staatliche Verfolgung oder eingeschränkte Handlungsfreiheit, sondern gegen den Einfluss fremder Kulturen in ihrem Vaterland. Patriotismus bekommt hier ein neues Gesicht, äußert Hoffmann von Fallersleben seinen nationalen Stolz aus der Situation eines noch nicht vorhandenen Deutschlands, agieren die Demonstranten dieser Tage aus der übersteigerten Motivation, ihr Kulturgut zu schützen. Vielleicht handeln auch sie nur aus der Überzeugung heraus, ihren nationalen Stolz zu verteidigen, muss aber nicht besonders ein Staat wie Deutschland durch eine Varietät von verschiedenen Lebensarten und Ethtiken geprägt werden – im politischen Tagesgeschäft so wie in der Gesellschaft?