Die Tagebücher des Victor Klemperer von 1933 bis 1949 stellen eines der umfangreichsten und wertvollsten Überlieferungen aus der Nazi-Zeit dar.
Victor Klemperer ist gebürtiger Jude, aber längst zum Protestantismus konvertiert als Hitler in Deutschland an die Macht kommt. Er ist studierter Romanist, Philologe und Germanist und lehrt an verschiedenen Universitäten. Seine Tagebuchaufzeichnungen spiegeln die Stimmung und die Denkweise der Unterdrückten unter dem NS-Regime wieder, die Hoffnungs- und Ausweglosigkeit und die Ungewissheit und Angst vor der drohenden Gefahr.
Im Folgenden werde ich alle Tagebuchbände vorstellen, und bin gespant auf die Reise, auf der ich Victor Klemperer begleiten werde. Ich erhoffe mir, einen sehr privaten Eindruck von der Situation der Unterdrückten im Dritten Reich zu erhalten, und das Leid und die Angst an seinem persönlichen Schicksal nachzuvollziehen.
Ich habe die Bücher freundlicherweise von einem netten Blogger zur Verfügung gestellt bekommen. Er betreibt ein Online-Museum und einen Reiseblog, ein Besuch lohnt sich!
Tagebuch 1933 -1934
"Ich habe den bestimmten Eindruck, dass die Katastrophe nicht mehr lange ausbleiben kann." (30.04.1933)Am 30.Januar gewinnt Hitler die Wahl zum Reichskanzler. Bald darauf folgen die ersten Bestimmungen gegen Juden und Nichtarier. Klemperer ahnt bereits, dass das Schicksal Deutschlands unter den Nationalsozialisten keine gute Wendung nehmen wird.
Es ist die Ungewissheit, die ihn zermürbt, die ungewisse Zukunft. Hat er als Jude überhaupt eine Perspektive im NS-Regime? Er beginnt sein Leben nicht mehr über längere Zeit zu planen; wagt es nicht, vorauszuschauen.
"Manchmal verliere ich allen Mut, und glaube, dies Regime werde doch halten und mich überleben." (19.06.1933)
"Eva ist immerfort leidend und schwer deprimiert ; ich selber quäle mich ständig mit Herz- und Angstbeschwerden, mit Todesgedanken." (6.09.1933)Seiner Frau Eva und ihm geht es psychisch und physisch immer schlechter. Die ständigen Sorgen um die Zukunft, massive Geldprobleme und körperliche Beschwerden stürzen sie in eine tiefe Depression. Klemperer ist überfordert mit seiner Situation, neben dem Schreiben und seinem Beruf als Professor kümmert er sich um den Haushalt und seine kranke Frau. Er muss dabei zusehen, wie Eva seelisch immer weiter zerfällt. Längst wagt er nicht mehr über mehrere Tage hinaus zu denken, gibt eine Zukunft innerlich auf. Er ist zudem in einen zermürbenden Gerichtsprozess verwickelt, jeden Tag beginnt er in ängstlicher Erwartung, denn eine Niederlage in dem Verfahren wäre eine Katastrophe für ihn.
"Der Nationalsozialismus, sagt sie, genauer: das Verhalten der Juden zu ihm, mache sie antisemitisch." (9.10.1933)Klemperer und seine Frau pflegen den Kontakt zu ihren Freuden und Bekannten mit regelmäßigen Abendessen und Treffen gerne. Die Politik und die aktuellen Geschehnisse bestimmen die Gespräche. Schnell stellt sich dabei heraus, wo die eigene Meinung offen ausgesprochen werden darf und welche politischen Positionen vertreten werden. Einige der Bekannten sind bereits aus Deutschland geflohen, viele arrangieren sich mit den Bedingungen in Nazi-Deutschland. Letzteres kritisiert Klemperer stark, die Juden fügten sich widerstandslos der Tyrannei.
"An die Bewahrung des Wahlgeheimnisses glaubt niemand, an das richtige Stimmenzählen glaubt auch niemand; wozu also Märtyrer sein? Andererseits: dieser Regierung ja sagen? Es ist unausdenkbar ekelhaft." (2.11.1933)
An eine faire Wahl glaubt im November 1933 niemand mehr. Klemperer sieht sich in einem Zwiespalt; er will Hitler auf keinen Fall unterstützen, weiß aber gleichzeitig, dass er mit einer Gegenstimme nichts bewirken, und unter Umständen Probleme bekommen könnte. Das Wahlgeheimnis hat in Tagen wie diesen seine Bedeutung verloren.
"Ich bin schon zufrieden wenn ein Tag ohne schwere Depression Evas vorübergeht und ohne Prozess- oder Hochschulärger. Ich bin allmählich Meister darin geworden, alle Sorgen zu unterdrücken, mich "stur" (Hitlers Lieblingswort) in die Arbeit, in irgendwelche, zu stürzten." (22.11.1933)Der Prozessausgang bereitet Klemperer große Sorgen. In der Hochschule bleiben ihm die Studenten aus, und er rechnet mit einer Absetzung. Eva geht es unterdessen schlechter. Das Haus kann nicht vor der eisigen Kälte des Winters schützen. Sie planen im nächsten Jahr ein eigenes neues im Nachbarort zu bauen, doch Klemperers finanzielle Lage lässt keine größere Unternehmung zu. Die Arbeit an seinen Büchern geht nur schleppend vorwärts, zu oft ist den ganzen Tag über beschäftigt.
"Ereignisse des Jahres: das politische Unglück seit dem 30.Januar, das uns immer persönlich immer härter in Mitleidenschaft zog. Evas sehr schlechter Gesundheits- und -Gemütszustand. Der verzweifelte Kampf um das Haus. der Fortfall aller Publikationsmöglichkeit. die Vereinsamung. (31.12.1933)Das Jahr 1933 hat Klemperers Leben verändert. Plötzlich ist er in seiner Heimat, in der Antisemiten und Rassisten regieren, als Jüdisch stämmiger und Schriftsteller nicht mehr willkommen. Evas tiefe Depression , die zusätzliche Arbeit und die Sorge um seine Frau lassen ihn Hoffnung und Mut verlieren.
"Der Ekel und die Müdigkeit würgen mich oft derart, dass nur noch der Ekel vor dem Grabe die Wage hält." (7.11.1934)Der Bau des kleinen Hauses im Nachbarort ist Evas großer Wunsch, die Hoffnung auf ein besseres Leben hält sie am leben. Sie beschäftigt sich gerne mit der Planung und Gestaltung des Gartens, und geht in ihrer neuen Rolle voll auf. Victor Klemperer hingegen ist oft verzweifelt, denn er weiß nicht, wie er das Geld für die Handwerker aufbringen soll. Er bekommt keine Kredite mehr gewährt, findet nur mit Mühe und Not einen rettenden Geldgeber. Es ist die Evas Freude an dem Bau, und die Besserung ihres Gesundheitszustandes, die ihn das Haus errichten lassen. Um sie herum droht alles zu zerbrechen, nur sie bauen sich ihr kleines Glück auf, eine Insel der Hoffnung entsteht.
"Keiner fühlt sich irgendeiner Meinung sicher. Meinungen auszutauschen hat jeder verlangen, weil aus Zeitungen gar nichts mehr entnommen werden kann. Am widerlichsten ist mir der spezifisch jüdische Pessimismus mit seiner angenehmen Gefasstheit. Gettogesinnung neu erwacht. (...)
Was hat mir nun 1934 gebracht? Das Häuschen mit vieler Freude und vielen Sorgen- Evas im ganzen gehobene Stimmung. - das stärkere Gefühl der eigenen Todesnähe, des schweren Gealtertseins. Die ersten 72 Seiten meines achtzehntes Jahrhunderts, vorher die Dilillestudie . - Den unsäglichen Druck und Ekel des fortdauernden Hakenkreuzregimes." (30.12.1934)Die Treffen mit den Bekannten werden immer weniger, längst muss er genau abwägen, wen er zu seinen Vertrauten zählt. Oft werden aus den Gesprächen Diskussionen über die neue Politik, und was sie aus der Gesellschaft macht. Klemperer beschreibt in seinen Tagebucheinträgen einige Schicksalsgeschichten seiner Bekannten; es sind Erzählungen über Emigration und Flucht und gleichzeitig Aufstiegs- und Erfolgsgeschichten im Hitler-Reich der neuen Möglichkeiten.
Das Jahr 1934 hat Klemperer gezeichnet. Die vielen Sorgen um seine Existenz, die unsichere Zukunft, die Entwicklung Deutschlands unter den Nationalsozialisten, die sein Leben komplett verändert hat. Sein Hoffnungsschimmer ist das Haus, der Bau hat stark an seinen Nerven gezerrt, auch wenn das Häuschen nur halb so groß geworden ist, wie anfangs geplant. Das Veröffentlichen seiner Rezensionen und Bücher bereitete ihm ebenfalls Kummer, oft konnte er nicht einmal mehr schreiben. Er ahnt bereits, dass auch 1935 keine Besserung seiner Situation bringen wird, und blickt ein weiteres Mal angstvoll und müde in ein unheilvolles neues Jahr.
Victor Klemperer vor der Machtergreifung Hitlers war ein intelligenter, nachdenklicher, offener und bodenständiger Mann. Im Laufe der beiden durch die Nationalsozialisten geprägten Jahre wird aus seiner Intelligenz Einschränkung, das Nachdenken stürzt ihn in eine ständigen Melancholie, und seine Offenheit unterliegt der strengen Zensur der nationalsozialistischen Ordnung; der Boden unter seinen Füßen wurde kurzerhand weggerissen.
"Judengesetze":
01.04.33: eintägiger Boykott jüdischer Geschäfte
07.04.33: Entlassung nicht arischer Beamten
06.09.33: Verbot von Verkauf jüdischer Zeitungen
15.09.33 Nürnberger Gesetze: Verbot von Mischehen; Verbot von Anstellung jüdischer Hausangestellten unter 45 Jahren
Hier geht es zur Vorstellung der Tagebücher 1940 -1941
Hier geht es zur Vorstellung der Tagebücher 1937 - 1939
Hier geht es zur Vorstellung der Tagebücher 1935 - 1936
Mit besonderem Dank an Moppi Moopenheimer!