Montag, 2. Mai 2016

Kooperation mit Charssblog - Stabat Mater (Tiziano Scarpa)

Endlich ist es soweit: heute veröffentliche ich nicht meine eigene Rezension, sondern die von Charlotte von https://charlssblog.wordpress.com/. Sie schreibt tolle Texte und interessiert sich für Literatur, Kultur und Poesie. Ein Besuch bei ihr lohnt sich auf jeden Fall!
Im Gegenzug postet sie einen Artikel von mir zu Erich Maria Remarques "Die Nacht von Lissabon". 

Stabat mater handelt von einem sechzehnjährigen Mädchen, Cecilia, das in einem Waisenhaus im Venedig des 18. Jahrhunderts lebt. Sie ist dort aufgewachsen, ohne Mutter und ohne das Wissen, eine Mutter zu haben.
Als Kind sucht sie die Dunkelheit, auch wenn sie sie fürchtet. Sie sitzt auf einer Treppe im Waisenhaus und verbringt die Nacht mit Lauschen und Denken, bis sie eines Tages beginnt, Briefe an ihre unbekannte Mutter zu schreiben. Das Buch besteht aus ebenjenen Briefen. In ihnen beschreibt sie ihr Leben - wie sie als Kind voller Schrecken eine heimliche Geburt beobachtet hat, ohne zu wissen was vor sich geht – , die anderen Mädchen im Waisenhaus und ihre Träume, die guten wie die schlechten.
Für mich war es anfangs sehr schwer, mich auf diesen Schreibstil einzulassen. Es war sehr zähflüssig und so erst einmal stockend. Doch wenn man sich genug entspannt und akzeptiert, wie man die Handlung direkt von Cecilia erfährt ist es das Beste, was dieser Geschichte passieren konnte. Es war eine kleine Offenbarung für mich.
Durch die Art des Erzählens in Briefform (wobei diese Briefe fast eher einem Tagebuch ähneln)baut sich eine unheimliche, beinahe intime Nähe zur Protagonistin auf. Man hat das Gefühl direkt in ihren Kopf sehen zu können… oder noch dichter, dort neben ihr zu sitzen und zu beobachten, wie sich ihre Gedanken Formen.
Ihre Träume sind geprägt von Angst und Tod, zeichnen oft erschreckende Bilder der Hoffnungslosigkeit. Doch sie berichtet auch von der Musik, ihrer Neugierde und ihren Hoffnungen. Die Geschichte strahlt eine unendliche Hoffnung an die Zukunft aus, ohne jemals zu vergessen, dass das Letzte dort der Tod sein wird. Er scheint so allgegenwärtig, wie die Musik in dem Waisenhaus.
„Ich habe den Arm ausgestreckt, berühre die Bretter des Betts über mir, breche einen kleinen Span ab, kratze an der Rauen Oberfläche, als sich ein Frauenkopf über die Bettkante beugt, anstelle der Haare sind da viele, viele schwarze Schlangen.
                „Was ist, hast du mich gerufen?“
                „Wer bist du?“, frage ich.
                „Ich bin dein Tod“, sagt der Kopf mit den Schlangenhaaren. Die Stimme ist freundlich.
                „Würdest du mir Gesellschaft leisten?“, frage ich.“
So unterhält sich Cecilia mit ihren innersten Gedanken, die ihren Tod verkörpern. All diese Vorstellungen, Erfahrungen und Emotionen vermittelt Cecilia direkt über die Briefe, als könne man sie in diesem Augenblick denken hören und so diese Zeit unmittelbar miterleben. Man darf live dabei sein, wenn Cecilia das erste Mal die Stadt sieht, wenn sie bemerkt, wie anders die schlafenden Mädchen doch als die wachen sind, wenn sie ihr alltägliches Leben führt, wenn sie sich nachts Gedanken über den Tod und das Leben macht und vor allem, wenn sie Vivaldi trifft. Bereits vor dieser Begegnung ist Cecilia eine talentierte und begeisterte Violinistin. Die Musik gibt ihr Halt, doch der Komponist des Waisenhauses ist alt und ideenlos.
„Lange Zeit war Musik für mich gleichbedeutend mit Don Giulio, Musik, das war Don Giulio, nichts anderes, ich wusste nicht einmal, dass es Musik von anderen Leuten gab, Musik, das war etwas, das gänzlich in jenem alten Körper verschlossen war […] Wir Instrumentalistinnen sind fast alle noch jung, wir lassen unser junges Herzblut in diese altersschwache Musik fließen. […] Die Musik zerreißt, wenn wir sie spielen. […] Seine Musik zwingt uns, alt zu sein. […] Wir spielen aus der Höhe, von oben herunter, auf den Emporen zu beiden Seiten der Kirche, einige Meter vom Boden entfernt, denn die Musik fällt schwer nach unten. Wir gießen sie über den Köpfen derjenigen aus, die uns zu hören gekommen sind. Wir tauchen sie ein, ersticken sie mit unserer Musik.“
Vivaldi hingegen tritt strahlend in ihr Leben. Er bringt neue, schwebende Musik… durch Vivaldi entdeckt Cecilia nicht nur die Musik ganz neu, sondern auch sich selbst. Sie stellt alte Gewohnheiten in Frage.
In erster Linie empfinde ich dieses Buch als eines über das Erwachsenwerden, das Loskommen vom Bekannten, das Wagen von Neuem. Es ist auch ein Buch über die Angst vor dem Unbekannten, vor der Zukunft, vor der Nacht.
„Frau Mutter, zur Abwechslung habe ich heute Nacht wieder einmal mit aufgerissenen Augen an die Decke gestarrt. […] Wenn die Angst kommt, wie fast jede Nacht, darf man keinesfalls im Bett bleiben. Also komme ich hierher, um euch zu besuchen.“

Und doch, trotz ihrer eigenen Angst kehrt Cecilia immer wieder in ihre vertraute, beängstigende Dunkelheit zurück, sucht die allzu bekannte Furcht ständig aufs Neue auf und wagt letztendlich sogar den Sprung ins Unbekannte, wodurch man selbst auch alles in Frage zu stellen lernt.
Für mich waren die Bezüge zu Vivaldi besonders schön. Am Offensichtlichsten ist da der Titel. Doch diese Hommage an Vivaldi nimmt nicht nur Bezug zu Vivaldis wunderbarer Vertonung des Gedichts „Stabat mater“, sondern auch zu Cecilias fehlender Mutter
Es gibt eine Szene, in der Cecilia den jüngeren Waisenkindern Geigenunterricht gibt. Um sie für die Musik zu begeistern lässt sie sie dort die verschiedenen Vogelstimmen nachahmen. Vivaldi hört und später in seiner Musik als das berühmte Motiv des Frühlings in „Die vier Jahreszeiten“ verarbeitet. Er inspiriert Cecilia. Er lässt sie zu musikgewordenen Gedanken werden, zu musikgewordenem Unwetter, Donner, Blitz, zu den Vögeln, zu Hageln, Hitze und Eis. Er fordert die jungen Musikerinnen heraus und stellt sie in Frage, ganz besonders Cecilia. Er zwingt sie zu einem inneren Aufbruch, zur Bewegung. Und so lässt das Buch auch den Leser zurück, mit Fragen nach der Zukunft, der eigenen und Cecilias. Mit dem schmerzlichen Gefühl des Verlusts, ob dieses so abrupten Endes. Es lässt in einem ein Gefühl der Leere zurück, die wünscht ausgefüllt zu werden… mit Musik und mit Leben.