Donnerstag, 31. Dezember 2015

Gedanken zum Jahreswechsel 2015

Follow my blog with Bloglovin Selber Ort, gleicher Tag, zwölf Monate später. Wieder ist ein Jahr vergangen und es ist Zeit für die Bilanz. Ich bin auf Sylt, im Urlaub mit Verwandten, wie jedes Jahr. Trotzdem ist etwas anders - ich bin anders. Gleich werde ich zum Strand gehen und das Feuerwerk ansehen. Ich weiß noch genau wie ich heute vor einem Jahr dort gestanden, und mit großer Sorge in die Zukunft geschaut habe. Damals lag das Bestehen das Führerscheins wie ein riesiger Berg vor mir, den ich mir niemals vorstellen konnte zu besteigen. Ein Jahr später sitze ich hintern Steuer auf der Reise nach Sylt.
An 2015 hatte ich keine hohen Erwartungen, keine großen Pläne. 2014 ist ein so tolles und erfahrungsreiches Jahr gewesen, besser hätte es nicht gehen können - dachte ich. Das letzte Jahr war so unerwartet großartig, aufregend und voller Leben. Es war das schwerste und anstregendste Jahr meines Lebens - aber gleichzeitig das beste. Ich bin dankbar für all die Reisen die ich unternehmen konnte: Italien, Berlin, USA, Lübeck, London, Sylt. Die beiden Wochen in Amerika haben mich besonders geprägt, werden mich immer begleiten. Das erste Mal allein unterwegs, sehe ich mich immer noch am New Yorker Flughafen stehen, Blick auf die Skyline voller Unglauben und Aufregung. Ich durfte tolle Orte kennen lernen, wie New York oder Mailand und interessante Menschen treffen. Aus der Zeit in Italien habe ich eine besondere Freundin gewonnen, der Mädelstrip nach Lübeck war ein gewagtes Experiment, und der Tag in London wird meiner Freundin und mir immer in Erinnerung bleiben. Das Highlight des Jahres waren die vier Tage Journalismusseminar in Düsseldorf - hier habe ich tolle Menschen kennengelernt, und freue mich einige von ihnen im März bei einer weiteren Veranstaltung in Berlin wiedersehen zu können.
Das nächste Jahr wird das alles verändernde werden. Mein Ziel ist das Abitur, der Weg steinig. Es ist das gleiche Gefühl wie bei dem Führerschein, nur erscheint der Schulabschluss ein Stück größer und wichtiger. Ich werde Entscheidungen fürs Leben treffen müssen; Studium, Ausziehen, eigenständig werden - Herausforderungen, die es irgendwie zu meistern gilt. Wo werde ich im nächsten Jahr um diese Zeit sein? Wieder auf Sylt? Ich kann es mir nicht vorstellen denn die nächsten zwölf Monate sind so ungewiss wie noch nie in meinem Leben.
Wie es mit meinem Blog weitergeht? Ich weiß es nicht. Ich möchte nicht aufgeben und auch ohne große Leserschaft weitermachen. An dieser Stelle möchte ich mich auch bei einem großen Unterstützer bedanken, Moopenheimers Museum!

Ich wünsche Euch wundervolles, anregendes und erfülltes neues Jahr, habt Spaß beim feiern!



Mittwoch, 23. Dezember 2015

Tagebücher des Victor Klemperer (1944)

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten"

"Heute bin ich durchaus nicht sicher, dass "er" in diesem Jahr erledigt wird. Resistent, Tyrannei, Dummheit sind alle drei grenzenlos." (01.Januar 1944)
Klemperer ist und bleibt Realist, versucht sich so wenig wie möglich von der "vox populi" beeinflussen oder falsche Hoffnungen machen zu lassen. Die Bevölkerung ist gespalten in fanatische Anhänger Hitlers, die sich von der rechten Propaganda und den vermeintlichen Kriegserfolgen befeuern lassen, und in verdeckte Antinazisten. Doch es gibt immer mehr Menschen, die ihm auf offener Straße Worte des Trostes zusprechen.


"In der Kriegsführung mögen sich die Nationalsozialismus verrechnet haben, in der Propaganda nicht. Ich muss mir immer wieder Hitlers Worte ins Gedächtnis rufen, er rede nicht mit Professoren." (19. März 1944)
Die Nationalsozialisten setzen in ihrer Kriegsführung nun verstärkt auf ihre auf  grenzenlos primitive und verwerfliche Stimmungsmache. Kriegsniederlagen werden vertuscht, mit Vergeltungsdrohungen abgewiesen und das "Weltjudentum" für das Kriegsleid verantwortlich gemacht. Das letzte Kriegsjahr erfordert stärkere Propaganda denn je, es gibt Gerüchte über eine Invasion der Alliierten und die Zurückdrängung der deutschen Truppen an den Fronten. Klemperer notiert immer mehr über die LTI, die Sprache des dritten Reichs. Den Fluch der Superlative, Pejorative und der Einfältigkeit des Wortschatzes durch primitive und radikale Steigerung von vorhandenen Worten durchschaut er mit intellektueller Überlegenheit, und benennt anhand von Meldungen aus dem "Reich" oder dem Heeresbericht die Absurditäten des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs.


"Es kommt nicht auf den großen Schlag an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein  Schlag auf den Kopf." (08. April 1944) 
 Das Leben der Juden in Deutschland ist gefährdeter denn je. Fast täglich hört Klemperer von Deportationen - bringt die Gestapo sie erst nach Theresienstadt, fahren sie direkt in Tod nach Auschwitz, überleben sie den Aufenthalt auf der Gestapozentrale? Klemperer unternimmt Spaziergänge zum jüdischen Friedhof, wo er mit den Arbeitern "die Lage berät" und Neuigkeiten erfährt. Zeitungen beschafft er sich durch Freunde und Bekannte. Täglich tauscht er sich mit ihnen über die aktuelle Kriegslage aus.

"Man sehe in Berlin keine Sternjuden. Die Gestapo sei damit einverstanden, drücke mindestens beide Augen zu. Der Stern wird nicht getragen oder versteckt. (...) Sei die Gestapo durch eine Denunziation zum Einschreiten gezwungen, dann erhalte der Angezeigte zuerst eine Verwarnung, danach eine Geldstrafe... Bei uns dagegen kostet der verdeckte Stern unweigerlich via KZ das Leben.-" (1. Mai 1944) 
In Zeiten in denen das Zeitung lesen und Radio hören für Juden verboten ist, die Hoffnungen auf ein baldiges Ende überschwellen, und die Propaganda der Nationalsozialisten Niederlagen verschleiert, ist es schwer, Erfundenes von Wahrheit zu trennen; Gerüchte von tatsächlichen Ereignissen. Die vox populi neigt zu Übertreibungen, die vox judae, überschwänglich ein baldiges Ende herbeisehnend dazu, nationalsozialistische Gräueltataten gegenüber Juden überspitzt darzustellen oder vermeintliche Erfolge vorschnell als Indiz für ein baldiges Kriegsende zu werten. Klemperers Herz sehne das Ende des Leidens herbei, der Verstand aber könne nicht daran glauben. Seine Rationalität bewahrt ihn vor allzu großen Enttäuschungen.


"Wie viel Arbeit werde ich mit einem Auge leisten können. Und wie viel Zeit bleibt mir? Ursache wahrscheinlich Zucker - daher der qualvolle Durst in der letzen Zeit. Hergang: ein minimaler aber doch ernster Schlaganfall. Ich habe gehofft, an der Angina auf eine anständige Weise zu sterben. Was macht der zweite Schlaganfall aus mir? Einen Haufen Blödsinn im beschissenem Bette, wie aus Grete, wie aus Vater? Soll sich Eva vor mir ekeln oder mit mir plagen? Aber ich habe kein Veronal, ich habe keinen Mut, und ich muss ja das 3.Reich zu überleben suchen, damit Evas Witwenpension sichergestellt wird." (6. Mai 1944)
Klemperer leistet seit dreizehn Monaten Fabrikdienst - aktuell in einer Papierverarbeitungsfirma. Das Pensum schafft er längst nicht, das Abzählen fällt ihm schwer. Die stumpfsinnige und eintönige Arbeit ist reine Zeitverschwendung für den Professor, der immer noch seinen philologischen Studien nachgeht und intellektuell anspruchsvolle Arbeit gewohnt ist. Zudem folgt nach einem leichten Schlaganfall in Folge seiner Angina eine einsetzende Augenlähmung, die ihm selbst den verbliebenen Rest seiner philologischen Tätigkeit zu nehmen droht. Klemperer ist aussichtsloser denn je, in der Fabrik muss er Nachtdienst übernehmen. Schlafmangel, Augenleiden und Herzleiden, das sich durch das regelmäßige beschwerliche Kohlenbeschaffen in der Stadt nur verschlimmert, rauben ihm jegliche Perspektive. In seinem Tagebuch schreibt er offen über Selbstmord.


"Ob nicht das ganze in der Hauptsache zur Ablenkung und Beruhigung des deutschen Publikums "aufgezogen" ist, und dabei unsicherer aufgezogen ist, wie es früher üblich war? oder sehe ich das zu rosig. Die Schlacht in der Normandie schwankt, in Italien kommt England rasch vorwärts, in Südrussland ist es immer noch still, in Finnland gewinnen die Russen Boden- welches Fazit sollte man ziehen? Ich urteile je nach Stimmung, alle paar Stunden anders. -" (19. Juni 1944)
Der Friedhof wird zur Nachrichtenzentrale und wichtigsten Anlaufpunkt für die Beschaffung von Neuigkeiten. Aber jeder Gang nach draußen mit seinem Judenstern bedeutet für Klemperer eine große Überwindung. Nur ein Bespiel für die Grausamkeit gegenüber den Juden: Neben dem Judenhaus wurde ein Lager für russische Gefangene errichtet, und erst kürzlich wurde eine ganze Familie nach Theresienstadt deportiert weil die Tochter ein Verhältnis mit einem Häftling führte.
Klemperer lässt sich auf Grund seines Herzleidens bei seinem Arzt von Arbeitsdienst befreien, stellt einen Antrag auf komplette Dienstentpflichtung. Er klammert sich an die Hoffnung, so mehr Zeit für seine Studien zu haben, doch der Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Qualität seiner Arbeit bleibt.


"Seit gestern von dem Gefühl beherrscht: vor dreißig Jahren! Daran schließt sich zuerst immerfort die Betrachtung des Altseins, Am-Ende-Stehens, Keinen-Anspruch-mehr-Haben. Aber es fehlt mir doch so ganz, was ich mir immer als Reife des Alters vorgestellt habe, ich bin weder satt, noch müde, noch irgendwie dem Letzten gegenüber ruhig. Nur absolut skeptisch. - Den Krieg anlangend, so scheint es mir eine grausame Ironie des Schicksals, dass die Russen Ostpreußen gegenüber genau da stehen, wo sie am 1.8.14 standen. Wer soll ihnen heute noch ein Tannenberg bereiten? Sieht man nur auf die Heeresberichte der allerletzten Tage: Normandie, Augustuswo, Warschau, dazu seit gestern Beskidenpaß und Schwanken der Türkei - so muss man sich sagen, dass der Krieg nur noch Wochen dauern kann. Liest man dann die Zeitungsartikel, Reden, Erlasse, so ist auf Jahre hinaus vorgesorgt, die Tyrannei unerschüttert und unerschütterlich, der "Endsieg" trotz aller momentanen "Krisen" - Krise ist das aktuelle Beschönigungswort für "Niederlage" - absolut sicher. Und da diese eiserne Stirn und dies einhämmernde Wiederholen selbst mich beeinflusst, wie sollte es die Masse des Volkes unbeeinflusst lassen? Ich sage mir immer wieder: Sie haben sich so lange gegen alle Natur und Berechnung gehalten, warum nicht noch ein Jahr länger?" (02. August 1944)
Die Gerüchte über die Invasion der Aliierten haben sich bestätigt, die Deutschen Truppen schlagen mit der Vergeltungswaffe "V1" zurück. Die Nationalsozialisten propagieren anhaltende Kriegserfolge, die berichten Zurückdrängung der deutschen Fronten. Klemperer vergleicht die propagandistische Berichterstattung im "Reich" regelmäßig mit der anderer Zeitungen, um die Situation möglichst realistisch einschätzen zu können. Er hat die Vermutung, Deutschland halte die Stellungen an der Ostfront nur so kämpferisch aufrecht, damit es bei einer Eroberung durch die Alliierten nicht den Russen in die Hände falle. Währenddessen wächst das Misstrauen der Juden untereinander, jedes kleinste Vergehen kann sie das Leben kosten.
Am 24.Juni ist Klemperer nach vierzehn Monaten vom Arbeitsdienst befreit worden. Doch die Erleichterung überschattet die dunkle Vermutung, der Arzt habe ihn nur freigestellt, weil er keine lange Lebensdauer für ihn voraussehe....


"Evas Geburtstag. Meine Hände wieder ganz leer, nicht einmal eine Blume." (12. Juli 1944) 
Geburtstage, Hochzeitstage, Feiertage werden von den aktuellen Kriegsereignissen in den Hintergrund gerückt. Klemperer notiert überwiegend die aktuellen Kriegsmeldungen und neue Deportationen. Statt persönliches Befinden oder Alltagsleben protokolliert er die Gespräche über das Fortschreiten der Invasion oder die Fliegerangriffe auf Deutschland akribisch.
Er verzeichnet auch eine Veränderung der Todesanzeigen: Während früher der Heldentod eines jeden Soldaten in einer eigenen Anzeige glorifiziert wurde, werden nun bloß noch die Namenslisten der Gefallenen gedruckt.


"Ich will bis zum letzen Augenblick weiter beobachten, notieren, studieren. Angst hilft nichts, und alles ist Schicksal. (Aber natürlich packt mich doch von Zeit zu Zeit die Angst. So gestern im Keller, als die Amerikaner brummten)." (22. Juli 1944) 
Mit dem Schreiben seines Tagebuchs bringt er nicht nur sich selbst, sondern auch jegliche Personen, die er darin namentlich erwähnt, in Lebensgefahr. Die Manuskriptseiten bringt Eva zwar regelmäßig zu einer arischen Bekannten, doch auch dort sind sie im Falle eines Fliegerangriffes genauso gefärdet. Aber Klemperer gibt das Dokumentieren nicht auf, das Tagebuch ist sein Art, Widerstand zu leisten.
Es gibt mittlerweile Gerüchte um die Auflösung von Mischehen und die anschließende Deportation jüdischer Ehemänner in KZs.  Dresden ist jetzt von regelmäßigem Fliegeralarm betroffen, ein längerer Aufenthalt im Luftschutzkeller war aber noch nicht notwendig. Bis zum Oktober wird Dresden von Fliegerbomben verschont bleiben als eine der wenigen so lange verschont gebliebenen Großstädte Deutschlands.


 "Also Seuchenverdacht. Aber das Gesundheitsamt gibt nichts bekannt. Wer den Verdacht ausspräche wäre Defätist. Auch ist es jetzt, wo Tod an der Front und über den Städten wütet, einerlei, ob noch ein apokalyptischer Reiter zu den anderen stößt. Auch fehlt es an Ärzten, Platz in Krankenhäusern und Arzneien." (30. November 1944)
Im Judenhaus sind gleich zwei Bewohner einer Seuche zum Opfer gefallen. Offiziell heißt es, sie seien an einer septischen Angina gestorben, da die Folgen der Äußerung eines Seuchenverdachts für die Bewohner unberechenbar wären. Das Haus muss desinfiziert werden um die Gefahr einer Ausbreitung einzudämmen. Über den Tod der zwei Freunde schreibt Klemperer nüchtern und distanziert, gar erschreckend kalt. Er versucht sich von deren Schicksal nicht berühren zu lassen, um sich selbst zu schützen.


"Das einzige wesentliche Datum war für mich der 24.Juni. Der Tag meiner Entpflichtung. Seitdem bin ich die Fabriksklaverei los, seitdem habe ich - erst fiel's mir schwer, jetzt bin ich's wieder gewohnt - ausgiebiger für mich arbeiten können. d.h.: aufs Geratewohl Lektüreschreiben sub specie LTI. Aber seit 24.Juni stehe ich auch sehr bewusst unter doppeltem Todesurteil: Wenn ich nicht sehr herzleidend wäre, hätte Katz diese Dienstentpflichtung nicht beantragen und nicht durchsetzen können (freilich half wohl auch die Augenlähmung ein bisschen mit, die sich inzwischen fraglos ein wenig gebessert hat.) Sodann! Wenn es zur Evakuierung Dresdens kommt, würde mich als Arbeitsfähig irgendwo schanzen müssen, während ich nutzloser Judengreis fraglos beseitigt werde. der Zukunft stehe mit geringer Hoffnung und stumpf gegenüber. es ist sehr fraglich wann der krieg zu ende sein wird (obschon im Augenblick die deutsche Chance bei stockender Westoffensive und verlorenem Budapest wieder gesunken ist). Und es ist mir noch fraglicher, ob ich aus dem Frieden nicht etwas werde herausholen können, da ich doch offenbar am Ende meines Lebens stehe. - Irgendwie mich mit dem Todesgedanken abfinden zu können vermag ich nicht; religiöse und philosophische Tröstungen sind mir vollkommen versagt. es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist die Versenkung in Studium, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck. Dunkel drückend ist auch meine Finanzlage: Bis zum April, bestimmt nicht länger, reicht mein Bankkonto. Aber diese Geldsorge bedrückt mich wenig. Sie scheint mir klein, wo ich mich immer, und zweifach, dreifach, in unmittelbarer Todesnähe sehe. Sehr enttäuschend geht das Jahr zu Ende. Bis in den Herbst hinein habe ich, hat die ganz Welt es für sicher gehalten, dass der Krieg bis Jahresende fertig sei: Jetzt ist das allgemeine Gefühl und auch meines: vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht in zwei Jahren. Zweiter Silvesteralarm, ohne Keller  22.15 Uhr bis 22.30 Uhr. Wir wollten gerade schlafen gehen." (31. Dezember 1944) 

Dienstag, 15. Dezember 2015

Tagebücher des Victor Klemperer (1943)

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten."

"Aber im Innersten bin ich recht hoffnungslos. Ich vermag mir gar nicht vorzustellen, wie ich noch einmal sternlos als freier Mann und in leidlicher Wirtschaftslage leben könne." (1. Januar 1943)
Das Ende des Kriegs liegt fern - Klemperer hat sich mit seinem Leben unter dem Nationalsozialistischen Terror so weit arrangiert, dass er sich einen Alltag in Frieden nicht mehr vorstellen kann.


"Es ist gar nicht zu sagen, wie sehr mir der Abreißkalender fehlt. Die Zeit steht still." (3. Januar 1943) 
Die Papiernot ist so groß, dass nun auch Kalender gestrichen werden. Die Stunden und Tage vergehen für Klemperer nun noch langsamer, unerträglicher. Währenddessen fordert Goebbels die Menschen zum absoluten Patriotismus auf, und plädiert für die Vereinigung von Nationalismus und Religion.


"-die Tage vergehen rasch und einförmig. Viele Gedanken absorbiert das Essen - Kartoffelnot und Hunger und Müdigkeit. Stagnierender Krieg." (13. Januar 1943) 
Die vox populi scheint sich zu ändern, man wünsche sich ein rasches Ende des Krieges zur Errettung der Juden. Auch die LTI (Sprache des Dritten Reichs) ändert sich: Statt vom "Sieg" spricht man jetzt vom "aushalten".


Juden, ohne den Druck des Antsemitismus oder und vor allem ohne die Furcht vor diesem Druck werden in ihrem gesamten Fühlen und Denken andere Menschen sein -  sie werden aufgehört haben, Juden zu sein sie werden ganz zu den Nationen gehören, in deren Mitte sie leben." (28. Jnuar 1943)
Die Unsicherheit treibe die Juden in den Internationalismus, in den Zionismus und auf der anderen Seite hinter die Mauern der Ghettos.
Außerdem machen es die Undurchschaubarkeit und Ungenauigkeit der Judengesetze den Juden leicht, gegen die Gebote zu verstoßen. Immer wieder kommen neue hinzu ohne die Betroffenen darüber zu informieren. "Irgendwas wird er wohl gemacht haben" - Verhaftungen geschehen ohne ersichtlichen Grund.
Die Sommeroffensive scheitert, die Front wird verkleinert. Im Lebensmittelgeschäft kommt man Klemperers oft entgegen. Auch die jüngeren Hitlerjungen sind meist freundlich.


"Ich lebe noch ich lebe noch ich lebe noch!" Darauf schränkt sich auch mein Empfinden; je nach Stimmung, von Stunde zu Stunde wechselnd, liegt der Ton auf "lebe" und "noch"." (28. Februar 1943) 
Fast alle Juden werden evakuiert und in Arbeitslager deportiert. Klemperer als in Mischehe mit einer Arierin lebend ist nicht betroffen.
Goebbels hat vor zehn Tagen den totalen Krieg erklärt.


"Es ist das Gute am Übermaß an Sorgen, dass man gegen sie, jedenfalls gegen jede, die nicht unmittelbar drängt,erstaunlich abstumpft." (04. März 1943) 
 Es geht das Gerücht um, Mischehen würden geschieden werden. Klemperer berät die Lage mit Bekannten auf dem jüdischen Friedhof: Entweder die Frauen würden Jüdinnen, und beide würden evakuiert, oder die Frau würde sich scheiden und nur der Mann müsste in ein Lager. In beiden Fällen würden Victor und Eva getrennt werden. Eva soll lieber retten was zu retten ist.


"Bei allem Variieren zermürbende Stagnation und dasselbigkeit. Immerfort Kämpfe im Osten,Rückzug an der einen, glückliche Gegenoffensiven an der anderen Stelle, immerfort Ruhe im Westen, immerfort Gerede von innerer Zuspitzung, immerfort Ruhe und Terror -  Ruhe der Bevölkerung, Terror der Regierung. Immerfort extrem optimistische und extrem pessimistische Stimmungen der Juden." (10. März 1943)
Klemperer befürchtet in einer neuen Unterkunft  zusammengedrängt mit anderen Mischeheleuten leben zu müssen. Außerdem fürchtet er sich vor dem Arbeitsdienst und der Unterbrechung seines Studiums. Auch die Nahrungsmittelknappheit sorgt ihn sehr, die Vorräte würden keinen Monat lang ausreichen.
Der Preis für ein Pfund Kaffee liegt auf dem Schwarzmarkt bei 200 Mark. Niemand glaubt mehr an den Wert des Geldes nach dem Krieg.


"Es erschüttert mich einigermaßen. es ist doch Todesgewissheit in sehr absehbarer Zeit. Ich habe in früheren Jahren gehofft, ich würde "später" dem Tod philosophischer gegenüberstehen; nun bin ich einundsechzig Jahre und so unruhig und bedrückt wie je. (...) Es fällt mir schwer, so weiterzuarbeiten, als wenn mir Zeit bliebe, etwas zu vollenden. Aber Arbeiten ist das beste Vergessen." (15. März 1944)
Klemperer hat eine Verengung der Herzgefäße, eine Angina, diagnostiziert bekommen. Er sieht sich jetzt auf eine andere Weise mit dem Tod konfrontiert. Er ist oft müde und erschöpft, das fast tägliche  und oft nicht erfolgreiche Kohlebeschaffen und die Fußwege strengen ihn an.


"Jede Stunde kann es mich treffen. Und dann in de Zelle sitzen und von Minute zu Minute auf den Henker warten, vielleicht einen Tag, vielleicht Wochen, vielleicht erwürgt mich hier auch niemand ("erhänge ich mich nicht"), sondern ich sterbe erst auf dem Weg ins KZ ("bei Fluchtversuch erschossen", oder in Auschwitz selber an "Insuffizienz des Herzmuskels. Es ist so entsetzlich, das in allen Einzelheiten auszudenken im Bezug auf mich, im Bezug auf Eva. Ich dränge es immer wieder zurück, will jeden Tag, jede Stunde ausnutzen.Vielleicht überlebe ich doch."            (25. April 1943)
Es ist Ostersonntag, Klemperer notiert im selben Einrag die Verhaftungen und den Tod von Mitarbeitern. Er gibt sich fatalistisch, doch eine winzige Hoffnung behält er. Die wirklichen Todesursachen der Verhafteten gelangen nicht an die Öffentlichkeit, Morde werden verschleiert, das Volk nicht beunruhigt. Die Judenheit stumpfe immer weiter ab und gewöhne sich an die Unterdrückung: die Verhafteten seien selbst schuld, wenn sie sich nicht streng an die Einhaltung der immer neuen Gesetze sorgten.


"Niemand kann aus der Geschichte lernen weil sie sich nie wirklich und ganz ohne Variante wiederholt. Vielleicht ist Geschichtskenntnis geradezu schädlich: sie macht befangen.Vielleicht ist es mit dem Geschichtswissen wie mit der Askese: beide machen unfrei." (22. Juni 1943)
Klemperer ist zum Arbeitsdienst in einer Tee- und Heilbäderherstellungsfirma einberufen worden. Der Stumpfsinn der eintönigen Beschäftigung ist für ihn eine Geistlosigkeit, er trauert um die verlorene Zeit; sein Stundenlohn beträgt nach den Abzügen 35 bis 40 Pfennig.


"Seit dem 9.10.34 sagte ich an jedem Geburtstag 'nächstes Jahr sind wir frei' es stimmte nie! Diesmal sieht es so aus als müsste das Ende nah sein. Aber sie haben sich so oft, vom Röhmfall an, gegen alle Naturmöglichkeiten gehalten. Warum sollten se nicht noch weitere zwei Jahre Krieg führen und morden? Ich habe keine Zuversicht mehr. Inzwischen werden wir nun ins dritte Judenhaus ziehen und diesmal den Kopf in die engste Schlinge stecken. In der Zeughausstraße wird der zusammengestopfte Judenrest in ein paar Minuten erledigt, wenn es der Gestapo passt." (9. Oktober 1943)
Eine verordnete Umsiedelung bereitet Klemperers große Sorgen. Erneutes Arrangement mit neuem Mitbewohnern, kleinerer Lebensraum und größere Angriffsfläche für die Gestapo. Daneben die große Lebensmittelnot - Kartoffeln sind das einzige Nahrungsmittel das Victor und Eva durch Betteln und mit den wenigen Marken beschaffen können. Die jüdische Kleiderkammer ist verstaatlicht worden, Klemperer muss einen schriftlichen Antrag darauf stellen, seine zerschlissenden Pullover, Socken und Hose ersetzen zu lassen. Außerdem ist Eva leidet schwer an Fieber und Ermüdung. Sie muss für ein paar Tage ins Krankenhaus, erholt sich dort gut. Aber die Angst Victors, ihr könne etwas passieren und er ohne arische Ehefrau völlig schutzlos zu sein, quält ihn sehr.
Der jüdische Friedhof wird für ihn zur Nachrichtenzentrale, überall sonst die Gefahr zu groß, dass Informationsaustausch als "Greuelpropaganda" aufgefasst wird.

Mittwoch, 2. Dezember 2015

journalistische Nachwuschsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung: Radio-Seminar in Düsseldorf


Viele Wege führen nach Rom -und in den Journalismus! Früh übt sich was ein Meister werden will, ein Sprichwort, das sich besonders Journalisten zu Herzen nehmen sollten. Ich habe mich für ein Seminar der Konrad-Adenauer -Stiftung angemeldet, und in der letzten Woche vier Tage in Düsseldorf verbracht. Radio -  so lautet das Thema des Intensivkurses. Vier Tage lang beschäftigen wir uns mit dem Hörfunk, die Trainerin ist eine freie Journalistin vom NDR. Wir, das sind 12 junge Menschen im Alter von 16 bis 18 Jahren, interessiert am Journalismus und der Neugier, neue Dinge auszuprobieren.

Donnerstag, 26.11.15: Ich fahre nach Düsseldorf. Eine Stadt, die gar nicht so weit von mit entfernt liegt, die ich aber trotzdem noch nie besucht habe. Die Jugendherberge, in der wir untergebracht sind, liegt auf der anderen Seite des Rheins, ich muss also ein paar Stationen mit der U-Bahn fahren - für ein Dorfkind wie mich eine ziemliche Herausforderung! Beim ersten Versuch nehme ich die Bahn in die falscher Richtung, komme aber doch noch gut an der Herberge an. Mein Zimmer dort teile ich mit mit einem Mädchen aus Berlin, wir verstehen uns gut, tauschen uns über unsere Erfahrungen aus. Am Nachmittag beginnt bereits der erste Theorie-Block des Seminars, die Trainerin führt uns in die Basics des Radio-Journalismus ein. Wir dürfen sowohl sie als auch den Seminarleiter duzen, es ist eine lockere Atmosphäre, schnell fassen wir Vertrauen zueinander.


















Freitag, 27.11.15: Ein Besuch beim WDR steht an. Darauf freue ich mich besonders, bin gespannt auf die Einblicke in den Fernsehjournalismus. Im Düsseldorfer Medienhafen steht das Glasgebilde, es ist das größte Regionalstudio des öffentlich-rechtlichen Senders. Die Führung bringt uns in ein Radiostudio und wir können ein Teile der Fernsehstudios durch eine große Glasscheibe von einer Galerie aus betrachten. Unten werden letzte Vorbereitungen für eine Sendung getroffen. Aber auch für uns wird es an diesem Tag praktisch: bewaffnet mit Mikrophon und Aufnahmegerät geht es in die Innenstadt zum Interviewtöne "holen". Wir wollen eine eigene kleine Radiosendung zum Thema "Weihnachtsblues" erstellen, zu der jeder von uns einen eigenen Beitrag zu einem frei gewählten Thema beisteuert. Einige entscheiden sich für Umfragen, z.B. zum Thema Weihnachtstraditionen, Sicherheit auf dem Weihnachtsmarkt oder Glühweinkonsum in der Adventszeit. Ich möchte mich mit Obdachlosigkeit in Düsseldorf beschäftigen, und wähle die Darstellungsform eines gebauten Beitrags; das heißt, ich möchte eigene Texte mit aufgenommenen O-Tönen mischen.















Eigentlich will ich dabei auch die Arbeit mit Obdachlosen beleuchten. Meine erste Anlaufstelle ist die Bahnhofsmission, dort habe ich leider keinen Erfolg: die Mitarbeiter dürfen mir keine Auskunft geben, bringen mich aber zum Bahnhofsvorplatz wo meine Interview-Reise beginnt. Ich treffe einige Punks und einen weiteren Obdachlosen, der mir im Gespräch erzählt, er habe die letzten 20 Jahre im Gefängnis verbracht - . Als nächstes fahre ich auf den Weihnachtsmarkt in die Altstadt. Dort interviewe ich zwei Pfandsammler, sowie ein paar Bettler in der Einkaufsstraße. Dort befrage ich auch einige Passanten nach ihrer Haltung zu Obdachlosen und den Einfluss der Weihnachtszeit auf ihre Geberlaune. Als es schon dunkel wird, fahre ich noch einmal zurück zum Bahnhof, hoffe, die Punker dort anzutreffen. Und tatsächlich - auf dem Vorplatz sitzt ein Mann mit Gitarre, "I wonna smoke" singt er dazu - "Was meinen Sie, sind die Drogenverdächtig?", fragt mich der alte Mann, der neben mir steht.. Und da sind sie, die Vorurteile gegen Unkonventionalität und Anderssein. In den Gesprächen, die ich an diesem Abend noch führe, erfahre ich viel über die Punksszene, vor allem aber über die Schicksale, die hinter den schwarzen Gestalten mit den bunten Haaren und Springerstiefeln stecken. Ein von ihnen, er sitzt im Rollstuhl und kann nur schwer sprechen, hat mit 14 Jahren sein Abitur geschafft, ein Studium abgeschlossen. Er hofft, an Weihnachten einmal Essen gehen zu können, wird an den Feiertagen wieder schnorren gehen.  Ein anderer ist erst 17 Jahre alt, wird bald Vater. Er hat den heiligen Abend noch nie gefeiert, wird auch in diesem Jahr wieder mit seinen Kumpels "einen saufen" gehen. Weihnachten ist für die meisten ein Tag wie jeder adere. Er ist genauso alt wie ich, und wir beide stellen diese Gemeinsamkeit überrascht fest - es sind zwei völlig unterschiedliche Lebenswelten, er wirkt so viel selbstständiger - auch in einer Weise reifer als ich. Er ist komplett auf sich allein gestellt, während ich es gewöhnt bin, immer meine Eltern im Rücken zu haben. Die Geschichten, die ich in nur vier Stunden Recherche erfahre, lassen mich nicht los. Schicksale und Menschen, die mir unglaublich leid tun, aber gleichzeitig viele neue Fragen aufwerfen. Die Offenheit der Menschen begeistert mich sehr, so viel Vertrauen und Freundlichkeit hatte ich nicht erwartet! Aber wie kann ich all die guten Töne in einem kurzen und knackigen Beitrag unterbringen? Ich habe Angst, den Geschichten nicht gerecht zu werden.




















Samstag, 28.November: Heute wird geschnitten: nach einer Einführung in das "Schreiben für's Hören", werden wir ins kalte Wasser in Sachen Technik geworfen. Ich bin vorher noch nie mit einem Schneideprogramm in Berührung gekommen, nun muss ich meine Interviewetöne schneiden, einen passenden Text schreiben, und einheitliche Atmosphäre darunter legen. Ich bin etwas überfordert, arbeite langsam. Das Manuskript, das heißt der geschriebene Text mit den ausgeschriebenen Interviewtönen, muss abgeliefert werde, und bei der Besprechung mit der Trainerin ist stellt sich heraus: mein Beitrag ist viel zu lang: fast 6 Minuten - dabei hätte ich locker eine viertel Stunde mit all den Aussagen und Eindrücken füllen können. Mein Beitrag wird gekürzt, danach geht es ans einsprechen: ein professionelles Mikrophon steht uns zum Aufnehmen unseres Textes zur Verfügung. Etwas befremdlich ist es, die eigene Stimme so klar und echt zu hören, eine völlig neue Erfahrung. Zuletzt wird das Gesagte zwischen die Interviewtöne geschnitten. Ich sitze bis 12 Uhr in der Nacht an meiner Reportage, und bin froh, sie nach anfänglichen Startschwierigkeiten doch zusammengebastelt bekommen zu haben.
Es ist der letzte Abend und eigentlich hatten wir uns vorgenommen, noch einmal in die Stadt zu fahren, entscheiden uns aber doch dazu, den Abend in einem der Zimmer ausklingen zu lassen. Es ist noch eine wunderschöne Zeit - wir verstehen uns untereinander so gut, obwohl wir uns erst seit 3 Tagen kennen. Morgens um vier gehen wir noch gemeinsam auf die Rheinbrücke - warum genau weiß ich auch nicht so genau - aber das Gefühl dort war unbeschreiblich. Eine tolle Zeit hinter uns, bleibende Erfahrungen interessante Bekanntschaften im Gepäck, leuchtet die nächtliche Düsseldorfer Skyline auf, und wir fühlen uns gut!




















Sonntag, 29.November: Nach einer kurzen Nacht hören wir uns am Morgen die fertige Radiosendung an. Unsere Trainerin hatte bis tief in die Nacht daran gearbeitet, alle Beiträge zusammen zu schneiden. Eine richtige Sendung ist entstanden, es gibt Moderatoren, Nachrichten und interessanten Themen rund um das Weihnachtsfest. Am Ende läuft Mariah Careys "All I want for Christmas" und man kann die Freude und Erleichterung in unseren Gesichtern sehen. Jetzt kann Weihnachtszeit kommen!

Hier geht es zur Seite der KAS-Medienwerkstatt, mit vielen interessanten Angeboten für Schülern, die sich für den Journalismus interessieren!