Sonntag, 23. August 2015

Tagebücher des Victor Klemperer - 1942

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten"


"Das Curriculum schleicht. Aber ich halte zäh daran fest. Und ich möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum Letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt." (17. Januar 1942)
Der harte Winter setzt Körper und Geist zu. Victor Klemperer leidet sehr unter dem Umstand, dass seine Vita als letzte große Lebensaufgabe nur schleppend voran kommt. Aber er hält daran fest, das Schreiben lässt den "Juden" wieder zum Menschen werden.


"Immer das gleiche Auf und Ab. Die Angst, meine Schreiberei könnte mich ins Konzentrationslager bringen. Das Gefühl der Pflicht zu schreiben, es ist meine Lebensaufgabe, mein Beruf. Das Gefühl vanitas vanitatum, des Unwerts meiner Schreiberei. Zum Schluss schreibe ich doch weiter, am Tagebuch, am Curriculum." (8. Februar 1942)
Klemperers Freizeit reicht immer seltener zum schreiben, sowohl die Haushaltsarbeit als auch Evas und sein eigener Gesundheitszustand lassen ihn immer weiter verzweifeln. Dazu wird er für zwei Wochen zum Schnee Schippen verordnet: Das bedeutet für ihn, den ganzen Tag über der Kälte und dem Frost ausgesetzt zu sein; eine Arbeit, die seinem schwachen Herzen schwer zusetzt. Und trotzdem kann er Kontakte zu Schicksalsgenossen knüpfen,er kommt so aus der zunehmenden Isolation durch die Judengesetze heraus. Dazu entgegnen ihm die meisten Aufseher als "judenfreundlich".


"Die Essnot wird immer qualvoller. Ich benasche das besser versehene Kätchen Sara  (sie isst weniger und erhält vieles von ihrer Mutter), wo etwas offen und angebrochen herumsteht. Ein Löffel Honig, ein Löffel Marmelade, ein Stückchen Zucker oder Brot. Gestern stand ein angeschnittenes Würstchen auf dem Tisch. Ich säbelte einen winzigen Brocken herunter. Bald danach hörte ich, wie Eva den Muschel aus der Küche vertrieb: Auch er hatte von den Würstchen stehlen wollen." (16. März 1942)
Das Judenhaus weiß kaum mehr, wie es über die Runden kommen soll. Überall wird getauscht, Eva geht nun bei wohlhabenderen Freunden betteln. Oft bekommen sie etwas geschenkt, oft kann wenigstens Eva eine warme Mahlzeit in einem Restaurant bekommen, doch sie geraten immer mehr in Bedrängnis. Dazu kommt die ständige Angst vor einer Haussuchung der Gestapo, überall kursieren Schauergeschichten über das brutale und menschenverachtende Vorgehen der Nazis. Sie sollen die Wohnungen verwüsten, Lebensmittelvorräte stehlen und besinnungslos herumprügeln.


"Aber wir haben zu viele Sorgen, um uns noch Sorgen zu machen. Wir leben von Tag zu Tag, solange man und leben lässt. Eins muss im Laufe der nächsten Monate geschehen: Entweder Hitler geht zugrunde, oder wie gehen zugrunde. Jedenfalls ist das Ende nahe. Wir wollen es in Fassung erwarten."  (24. März 1942)
Klemperers droht nun such der endgültige Verlust ihres Hauses, sie können die Schulden nicht mehr bezahlen. Trotz der aussichtslosen Lage schalten Sie einen Rechtsanwalt ein, und hoffen dass ihnen die Nazis nicht auch noch das letzte Stück ihres früheren Lebens nehmen. Dazu muss nun Eva die langen Einkaufswege zurücklegen, für den Juden Klemperer ist es angesichts der sich häufenden Gestapo-Übergriffe und neuen Judengesetzgebungen zu riskant. Außerdem kann Eva als Arierin dazu leichter an Lebensmittel gelangen. Aber neben ihrem Nervenleiden quält sie ihr Fuß sehr, sie verkraftet die langen Strecken nur schwer. Victor ist tagsüber müde und schlapp, oft muss er für Eva bis spät in die Nacht oder in den frühen Morgenstunden vorlesen um sie bei Laune zu halten. Beide sind stark unterernährt.

"Ich las viel Chamberlain vor, und schlief immer wieder über der Lektüre ein, teils aus allgemeiner Erschöpfung und buchstäblichem Hungergefühl, teils wegen meiner Unfähigkeit, Philosophisches zu verstehen. Es ist erstaunlich, mit wie eng begrenzten geistigen Fähigkeiten ich meine Laufbahn gemacht habe. (Ebenso erstaunlich: mit wie wenig Fachwissen!)" (7. April 1942)
Da er seine Manuskriptseiten längst zu arischen Bekannten zur sicheren Verwahrung gegeben hat, liest Klemperer nun, was er von Freunden ausgeliehen bekommt. Es soll seinem Curriculum und seinem geplanten Buch über die Sprache im Dritten Reich, über die er stetig und viel notiert, einmal nützen. Doch auch starke Selbstzweifel bestimmen sein Denken, er liest viel Fachliteratur und redet sich ein, auch sein Intellekt habe unter der Situation gelitten, er könne vieles nicht mehr verstehen.


"Es ist sehr wichtig, dass sie (Eva) dort etwas zu essen auftreibt; so bleibt mehr Brot für mich hier."    (26. April 1942)
Die Lebensmittel werden immer knapper, es wird zum Sparen aufgerufen, doch Klemperers nagen längst am Hungertuch. Es gibt fast nur noch Kartoffeln, und wenn sie Glück haben, etwas Brot. Victor geht kaum mehr vor die Tür, Eva isst oft in Restaurants, um ihrem Mann die geschenkten oder erbettelten Lebensmittel zu lassen.


"Was gehen mir für Wünsche durch den Kopf? Nicht Angst haben vor jedem Klingeln! Eine Schreibmaschine. meine Manuskripte und Tagebücher im Hause haben. Bibliotheksbenutzung. Essen! Kino. Auto." (8. Mai 1942)
Das Judenhaus ist in die längst erwartete Haussuchung geraten. Die Gestapo Männer haben Klemperers Wohnungen verwüstet, Butter, Speck und Süßstoff für die nächsten Tage gestohlen und Eva bespuckt und ihr ein paar Ohrfeigen gegeben. Victors Tagebuchnotizen haben sie nicht gefunden, sie hätten ihn den sicheren Tod gekostet. Beide sind vergleichsweise glimpflich davon gekommen, andere Bewohner wurden schlimmer misshandelt. Doch die Angst vor einem erneuten Besuch von "Spucker" oder "Boxer" ist nun noch größer, gepeinigt und entwürdigt schrecken sie bei jedem Türklingeln zusammen, und verstecken Lebensmittel und Tabak unter den Schränken. 


"Der erhobene Katzenschwanz ist unsere Flagge, wir streicheln sie nicht, wir behalten die Nasen hoch, wir bringen das Tier durch...." (14. Mai 1942)

Juden ist es verboten Haustiere zu halten. Klemperers wollen dem Kater Muschel, seit elf Jahren ihr treuer Begleiter, den qualvollen Tod durch die Tiersammlungen der Nazis ersparen. Allerschwersten Herzens entscheiden sie sich, ihn einschläfern zu lassen. Dabei gehen sie ein hohes Risiko ein, von der Gestapo erwischt zu werden. Besonders Eva fällt der Abschied schwer.


"Aber ich schreibe weiter. Das ist mein Heldentum. Ich will Zeugnis ablegen, und exaktes Zeugnis."        (27. Mai 1942)
 Das Curriculum stagniert, doch Klemperer ist froh dass er die Seiten bei der Haussuchung sicher untergebracht hatte. Er rechnet jede Sekunde mit einem erneuten  Besuch der Gestapo, sie waren bereits ein zweites Mal da. Der Hunger ist sein ständiger Begleiter, genauso wie die Verzweiflung und die Frage: wie lange noch, und ob überhaupt...?

"Ich war wieder kindisch, feige und egoistisch: Ich dachte an den riesigen Schuster und sah die ganz, ganz kleine Urne. Da kam mir der Gedanke der Vernichtung noch näher und schüttelte mich noch mehr als einem Sarg gegenüber. - Am Nachmittag, nachdem ich lange geschlafen, las ich viel im Grätz. Bei den Lebensdaten der Personen fiel mir immer wieder auf, wie wenige Leute über die Mitte Sechzig kommen, und immer wieder schüttelte mich das Gefühl der Vernichtung. Selbst wenn ich Hitler überlebe, wie viel bleibt mir noch? Es ist so dumm: Nur das Nichtsein, nichts anderes fürchte ich." (5. Juli 1942)
Vier Haussuchungen in zwei Wochen haben das Judenhaus gezeichnet. Klemperers konnten der prügelnden Gestapo zwar wieder leidlich entgehen, doch der Schrecken sitzt ihnen tief in den Knochen. Oft erfahren sie in diesen Zeiten vom Tod oder "gestorben werden" Bekannter oder früherer Freunde. Auch die Schauergeschichten von Gestapo-Verhören und KZ-Deportationen häufen sich. Manchmal bringt Eva Erzählungen von ihren Restaurantbesuchen und Einkäufen in der Stadt nach Hause oder sie erfahren die Neuigkeiten von ihren Mitbewohnern. Auch besuchen sie wieder Bekannte außerhalb des Hauses, oft fungiert Klemperer dabei als tröstender Beistand, obwohl er selbst nicht an einen guten Ausgang der Situation glaubt.


"Als wir im Mai 40 hier einzogen , sagten wir uns, dies sei ein Provisorium. Und nun nach zweieinhalb Jahren wird ein neuen "Provisorium" beginnen, und unter welch verschlechterten Verhältnissen. Allein die Sommer! Im Sommer 40 die weiten Ausflüge, im Sommer 41 immer noch Spaziergänge und Sattessen, im Sommer 42 ist Eva an die Stadteinkäufe gebunden, und ich lebe wie ein Gefangener, und beide hungern wir. Und täglich lege ich mir die Frage vor, ob ich den Sommer 43 erlebe. Die anderen Männer des Judenhauses sind alle hin (...)" (21. Juli 1942)
Evas und Victors Zustand verschlechtert sich stetig. Beide sind abgemagert, Victor stiehlt weiter Zucker oder Brot bei seiner Nachbarin im Judenhaus. Umgeben von immer grausameren Erzählungen von Bestrafungen der Gestapo für die kleinsten Vergehen, traut er sich nur noch selten nach draußen. Zu viele Juden werden derzeit die Arbeitslager und KZs deportiert, zu schnell erhalten die Familien die Todesnachricht. Entweder heißt es darin "bei der Flucht erschossen" oder "an Altersschwäche verstorben". Eva ist fast den ganzen Tag mit der Lebensmittelbeschaffung beschäftigt, oft steht sie stundenlang vergeblich vor den Lebensmittelgeschäften an.



"Wir sind jetzt Sechzig Jahre als, und von diesen sechzig haben wir sieben als Kriegszeit durchlebt., mehr als zehn Prozent. Europa im 20.Jahrhundert! Aber welch eine anständige Sache war der vorige Krieg, wie wenig Entsetzen im Vergleich zu diesem hatte er für mich. Unter allem, was ich tue und denke, immer das Bild des Galgens in einer Gefängniszelle." (31. Juli 1942)
Viele Juden begehen in diesen Zeiten Selbstmord, wollen dem Hitler-Regime nicht zum Opfer fallen, und haben Angst vor einem qualvollen Verenden im KZ. Victors Gedanken kreisen Tag und Nacht um die Zukunft, wie lange wird der Krieg noch dauern? Die vox populi bewegt sich ständig zwischen Euphorie und Depression, er hat Albträume von einer erzwungener Selbsttötung in Gefangenschaft. Auch eine Judenhaus-Bewohnerin hat in diesen Tagen Selbstmord verübt, es war bereits ihr zweiter Versuch. Veronalvergiftung, sie hatte einen Bescheid zur Deportation nach Theresienstadt erhalten.



"Auf kein Alter, keine noch so völlige Gelähmtheit, keine Schmerzen werde im geringsten Rücksicht genommen. - Was ich an alldem soviel grässlicher finde als ähnliches bei den Russen: es ist nichts Spontanes dabei, es ist alles methodisch organisiert und angeordnet, es ist "kultivierte" Grausamkeit, und es geschieht heuchlerisch, im Namen der Kultur und verlogen. Bei uns wird nicht gemordet."    (14. August 1942)
Die Nazis bringen immer mehr alte Menschen nach Theresienstadt, wo sie entweder schon beim Transport verenden, sich zu Tode arbeiten, oder nach Auschwitz oder Mauthausen zur endgültigen Vernichtung deportiert werden.


"Es fällt mir alles ein, was ich entbehre und vielleicht nie wieder haben werde. Abstinenz macht schmutzig. Ob sie sich auf Zucker oder Kino, Tabak oder Frauen, Brot oder Auto bezieht. Man ist von dem Entbehrten immer in schmutziger Begehrlichkeit besessen."   (16. August 1942)
Auf den Straßen sind die abgemagerten Menschen mit dem vor Hunger aufgeblähten Bäuchen und aufgenähten Judensternen ein alltägliches Bild. Die Lebensmittelknappheit trifft Klemperers stark. Für Eva wird es immer schwieriger, eine Mahlzeit in einem Restaurant zu finden, satt wird auch sie dort längst nicht mehr. Zudem leidet Victor unter dem Zustand seiner Kleidung, oft bekommt er Jacken oder Schuhe von den verstorbenen oder deportierten Bekannten vererbt. Dienstleistungen wie Frisör oder Schuster sind für ihn nur schwer zu erhalten. Seine Gedanken kreisen um sein Überleben und die Markenknappheit, ohne die Lebensmittelspenden von Bekannten käme er wahrscheinlich nicht durch den Monat.


"In unseren Zimmer das Chaos, in Küche und Waschküche unten die Schwierigkeit , an meinem Korpus die Ungewaschenheit auch heute noch kaum viel anders als am Donnerstag. Ich rasiere mich, aber ich schlafe ohne Nachthemd, tout nu. Eva ist bis zum Zusammenbrechen abgehetzt, kommt nur wenig zum Auspacken, Einordnen. Ich finde wenig Zeit zum lesen, zum Schreiben, das bisschen Abwaschen, das bisschen Michwaschen, ein gelegentlicher Weg fressen den Tag. Abends beim Vorlesen schlafen wir nach 20 Zeilen ein." (8. September 1942)
Seit fünf Tagen wohnen Klemperers in einem neuen Judenhaus, das vorherige wurde aufgelöst. Bei der Wahl ihrer neuen Bleibe hat die Besuchsquote der Gestapo eine große Rolle gespielt. Jetzt leben sie mit zwanzig Leidensgenossen zusammen in einer alten Herrenvilla, die mit ihrer weiten Empfangshalle, hoher Decke und Galerie den Glanz der alten Zeit verkörpert. Viele Mitbewohner aber arbeiten tagsüber, sodass sie das Haus oft ganz für sich alleine haben. Eva begibt sich morgens auf Lebensmittelsuche, Victor holt sie von der Tramhaltestelle ab, und schleppt die Errungenschaften, meist schwere Kartoffelsäcke, nach Hause. Oft besuchen sie Freunde und Bekannte. Dort leiht sich Klemperer seine Bücher, die er zum Zeitvertreib und als Studium für sein Curriculum liest. Seine an Geisteskrankheit leidende Schwester ist kürzlich verstorben, doch Klemperer rührt der Verlust nicht sonderlich, er ist abgestumpft von den täglichen Todesmeldungen. Zu viele Menschen kehren nicht heim von ihren Gestapo-Besuchen, oder kommen in Theresienstadt auf ungeklärte Weise ums Leben.


Klemperer notiert viel in diesem Jahr. Sein Curriculum stagniert, sein Tagebuch ist das einzige was ihm bleibt, er beginnt darüber nachzudenken, es einmal veröffentlichen zu lassen. Er ist sich seiner Situation so ungewiss wie nie, jeden Tag rechnet er mit einer Haussuchung oder einem Deportationsbescheid. Außerdem kursieren Gerüchte über die Scheidung von Mischehen von Juden und Ariern, zu oft macht er sich Vorwürfe, Eva leide mehr als er. In seiner schriftlichen Korrespondenz mit Bekannten im Ausland kann er seine Situation nicht schildern, Briefe unterliegen längst der Kontrolle der Gestapo und auch sonst kann jedes kleine Vergehen tödlich enden. Immer lastet die Frage "Wie lang noch?" auf ihm, er sieht in seinem Dasein keine Zukunft mehr. Auf Beerdigungen wird von der Wertschätzung des Überlebens gepredigt, vom Schutz Gottes und der Bewahrung vor dem Übel. Um ihn herum begehen viele Juden Selbstmord oder werden in Arbeitslager deportiert, er erwartet das gleiche Schicksal. Zu schnell müssen sich Klemperers von gerade erst vertraut gewordenen Freunden verabschieden, was Victor und Eva von ihnen bleibt, sind oft nur einzelne Bücher aus deren Bibliotheken, die den Nazis nicht in die Hände fallen sollen, oder weitere Kleidungsstücke für den verschont gebliebenen Victor. Viele Arier wissen um die ausweglose Lage der Juden nicht einmal Bescheid.


"Judengesetze":
10.01.12: Abgabe von Woll- & Pelzsachen
17.02.42: Verbot des Beziehens von Zeitungen & Zeitschriften
03.42: Verbot von Blumenkäufen
24.04.42: Verbot der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln
15.05.42: keine Haltung von Haustieren
29.05.42: keine Friseurbesuche
09.06.42: Abgabe aller entbehrlichen Kleidungsstücken
11.06.42: keine Raucherkarten
19.06.42: Abgabe aller elektrischer Geräte & Fahrräder
20.06.42: Schließung jüdischer Schulen
18.09.432: kein Fisch, Eiern &Milch


Hier geht es zur Vorstellung des Tagebuchs von 1940 - 1941
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Mit besonderem Dank an Moppi Moopenheimer!













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