Dienstag, 26. Januar 2016

Tagebücher des Victor Klemperer (1945)

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten"

"Eines steht fraglos fest: die ungeheure Zähigkeit und immer neue Erfindungskraft, mit der die Regierung den Krieg weiterführt. Sie haben schon ein Recht, vom "deutschen Wunder" zu reden, und ich bin mir wahrhaftig ihrer Niederlage nicht mehr gewiss; mindestens werden sie sich noch überlange wehren. Dass sie die masse bei der Stange halten, verdanken sie nicht bloß ihrer Tyrannei. Sondern vor allem dem immer wiederholten (und selbst von Leuten wie Frau Stühler geglaubten!) Die Feinde, und besonders die Bolschewisten wollen euch vernichten, euch buchstäblich töten. Sie verdanken alles dem Schreckensgespenst Bolschewismus, trotzdem sie selbst Bolschewikissimi sind. -" (4. Januar 1945)
Anfang des Jahres tauchen Gerüchte über die Krankheit Hitlers auf, zerschlagen sich aber schnell als "der Führer" wieder im Radio spricht. Die Angst vor der russischen Offensive mischt sich mit der Unklarheit über ihr Vorankommen. Klemperers leiden unter dem Frost und großer Lebensmittelknappheit. Der Dresdener Bahnhof ist überfüllt mit Flüchtlingen, sie kommen in immer größeren zahlen aus Berlin. 'Das Ende scheint nah zu sein', entnimmt Klemperer der vox populi, dem Volkstenor.


"Eva sagte, ich dürfe keine Namen nennen, dürfte niemanden gefährden. Richtig - aber wie könnte ich ohne Namen genau notieren? Ich denke, im Luftschutzgepäck wird man nicht Haussuchen, ich hoffe, zum Haussuchen überhaupt dürfte es schon an zeit und Menschen fehlen." (29. Januar 1945) 
Berlin wird von der russischen Armee verwüstet, die Angst vor den Auswirkungen auf Dresden wächst.
Wenn auf der Straße offen vom nahen Kriegsende gesprochen wird, bleibt Klemperer stumm - die Angst vor Denunziation und dem Verlust des Tagebuchs - dem damit verbundene Schicksal der Genannten in seiner Verantwortung- ist groß.


"Vom Krieg seit 48 Stunden keine Neuigkeit. Es geht zu langsam für uns. -Angst haben alle. Die Juden vor der Gestapo, die sie ermorden könnte vor dem Eintreffen der Russen.d er Arier vor dem Russen, Juden uns Arier vor der Evakuierung, vor dem Hunger. An ein rasches Ende galubt keiner, und Jud und Christ fürchten auch gemeinsam die Bombenangriffe. Heute früh briet Eva eine Extrawurst für uns. Wenn die Russen kommen, sagt sie, werden die Brücken gesprengt; dann müssen wir aus unserem haus bestimmt heraus; entweder der Sprengung halber, oder weil es zur Verteudigung hergerichtet wird. - Wir mussten beide lachen, wie wir so als Selbstverständlichkeit besprachen, was uns früher romanhaft erschienen wäre. Im Grund efürchten wir gar nichts mehr, weil wir ja immerfort, in jeder Stunde, alles zu befürchten haben. Man stumpft ab." (3. Februar 1945)
Die Zahl der Deserteure der deutschen Armee steigt -  von zunächst angenommenen 700 auf 7000. Die Kinos werden geschlossen, es wird sich auf das Kriegsende bereit gemacht. Klemperer wird dazu verpflichtet, Einsatzberufungen zum Arbeitsdienst des Auswärtigen Amtes an die letzten in Dresden lebenden Juden zu verteilen, die noch als "einsatzfähig" gelten. Es ist das Todesurteil für sie.


"Dann sagte er zu mir: Evakuation für alle einsatzfähigen, es nennt sich auswärtiger Arbeitseinsatz, ich selber als Entpflichteter bleibe hier. Ich: also für mich sicherer das Ende als für die Herausgehenden. Er. das sei nicht gesagt, eher im gegenteil gelte das Hierbleiben als Vergünstigung (...) Mein Herz streikte in der ersten Viertelstunde vollkommen, später war ich dann vollkommen stumpf, d.h. ich beobachte für mein Tagebuch. (13. Februar 1945)
Der "auswärtige Arbeitseinsatz" wird als Marsch in den Tod aufgefasst, Klemperer sieht im Daheimbleiben eine noch größere Gefahr - Fliegerangriffe, Gestapo, Kriegsverlauf...
Er ist derjenige, der den vielen Dresdener Juden ihr Todesurteil überbringt, und erfährt die unterschiedlichsten Reaktionen: Von Resignation bis zum völligen Entsetzen.


"Ich war ohne Zeitgefühl, es dauerte endlos und dauerte doch wieder gar nicht so lange , da dämmerte es. Das Brennen ging immer weiter. Rechts und links war mir der Weg nach wie vor gesperrt - ich dachte immer: Jetzt noch zu verunglücken wäre jämmerlich." (13. Februar 1945)
Den 13 und 14. Februar beschreibt Klemperer in seinem Tagebuch als "Die Dresdener Vernichtung". Die Stadt liegt in Schutt und Asche, zwei tage irrt Klemperer von Bunker zu Bunker, verliert Eva, bangt, zu erfahren wer noch lebt und wie es weitergeht soll. Er selbst ist bei einer Detonation am Auge verletzt worden, Das Judenhaus ist zerbombt: Alle Möbel, Lexika, Bücher sind unwiederbringlich zerstört. Nur die Manuskriptseiten trägt Klemperer bei jedem Alarm in seinem Luftschutzgepäck mit sich, außerdem verschafft Eva die Tagebuchseiten regelmäßig zu einer Bekannten nach Pirna.
Auf dem Weg zur 'Nachrichtenzentrale jüdischer Friedhof' reißt Eva Victor den Judenstern von der Jacke herunter. Ab jetzt sind Klemperers das ausgebombte arische Flüchtlingsehepaar "Kleinpeter". Für sie beginnt eine lange Zeit der Flucht, die sie in die bayrischen Provinzen, nach München, Regensburg und schließlich wieder nach Dresden führt.
Bei der folgenden Beschreibung seiner Erlebnisse bis zum Juni des Jahres geht er über den Rahen eines Tagebuchs hinaus, es bekommt die Dimension eines Romans.

"In Klotzsche kamen mir zum ersten mal Gedanken über unsere Verluste. Alle meine Bücher, die Lexika, die eigenen Werke, ein Maschinenexemplar des 18.Jahrhunderts und des Curriculum. Geschied ein Unglück in Pirna, dann ist meine gesamte Arbeit seit 1933 vernichtet. - Im Schreibtisch lagen zusammengestellt die Stücke des dritten Bandes gesammelter Aufsätze. Wie soll ich das wieder zusammenfinden? Bei Thamm sind alle meine Sonderdrucke verrichtet... Das alles focht mich nicht übermäßig an. Das Curriculum würde ich in knapperer und vielleicht besserer Verfassung aus dem Kopfe wiederherstellen. (..) Nur um die LTI wäre es ewig schade." (Februar 1945)
Umstände der Flucht: Essensmarken sind ungültig, über den Wert des Geldes ist man sich unklar und wenn Eva und Victor etwas zu essen bekommen, dann meist umsonst. In der Besatzungszone der Amerikaner sehen sie die so fremdartigen Dunkelhäutigen, überall fahren die Soldaten in Autos. Sie sind freundlich im Verhalten gegenüber der Bevölkerung und den Kindern, denen sie oft Schokolade schenken. Auch lassen sie ihre Zigarettenstummel auf den Straßen liegen, und Victor und Eva gelangen so an etwas Tabak, den besonders Eva schmerzlich vermisst.

"Seit wir hier angekommen, dürften meine Chancen des Überlebens einigermaßen auf 50 Prozent gestiegen sein. Meinen Manuskripten in Pirna aber, die keinerlei Kopie mehr haben, und alle Arbeit und alle Tagebücher umfassen, gebe ich höchstens 10 Prozent Chance." (März 1945)
Und trotzdem notiert er immer weiter, "bis zum letzten". Aus den Stichpunkten die er während der Flucht macht, schreibt er, wenn er in einer passablen Unterkunft Zeit findet, seine Fluchtgeschichte.
Die ständige Angst, dass der Schwindel des fehlenden Judensterns auffliegen könnte - das Todesurteil zu kurz vor Kriegsende - quält ihn zunächst sehr. Aber niemand will mehr Anhänger Hitlers gewesen sein - die Menschen wollen in der Stunde der Niederlage ihren Kopf retten.

"Man unterscheidet die Geräusche. Die raschen und schmetternden Amerikanischen Autos und Autokolonnen kommen nicht in Frage, auch die von den Amerikanern gestellten Transportautos für Militärheimkehrer nicht. Ein Trecker bietet bessere Aussicht, aber manchmal führt er Mist. Am sichersten sind die Pferdefuhrwerke - aber plötzlich biegen sie, zehn Schritt ehe sie unsere Lagerstelle an der Straße erreichen, ins Feld ab. Es gibt auch die Enttäuschung geführter Pferde ohne Wagen. Und dann gibt es noch den Ochsenwagen, die sind nicht viel langsamer als Pferdewagen, aber sie fahren meist nur sehr kurze Strecken." (Mai 1945)
Schlechte Versorgung in Notunterkünften und Nagrungsmittelüebrfluss in vielen Bauernhäuser - doch nicht überall werden Klemperers herzlich aufgenommen. Viele schauen mit Argwohn auf sie herab, in den zerstörten Städten und Dörfern mangelt es auch den Einwohner am Nötigsten. Klemperers lernen die verschiedenen Facetten des Flüchtlingsdaseins kennen. Jeden Tag legen sie kilometerlange Wege zu Fuß zurück, der Zugverkehr ist bis Mai fast komplett eingestellt. Es kursieren Gerüchte um den Tod des Führers, aber an zuverlässige Nachrichten gelangen sie auf ihrer Flucht kaum.

"Überall das selbe Bild in immer neuen Variationen, mit immer neuen Kinoeffekten: Völlige Geröllhaufen, Häuser, die unversehrt scheinen, und nur noch Kulissen sind, Häuser mit abgerisenener Außenmauer und dachlos, aber die einzelnen Stockwerke, die einzelnen Zimmer mit ihren verschiedenfarbigen Tapeten sind noch da, irgendwo ist ein Waschbecken erhalten, schwebte ein Tisch, steht ein Ofen, Häuser, die innen ausgebrandt sind.. (Ende Mai 1945)
Klemperers waren im Februar nach Bayern aufgebrochen, um bei den Eltern von Bekannten Unterschlupf zu finden. Darauf folgt eine Odysee durch Süddeutschland, eine Flucht von Unterkunft zu Unterkunft, jeden Tag legen sie fast 20 Kilometer zu Fuß zurück - vor der Sperrstunde um 21 Uhr müssen sie eine Unterkunft gefunden haben. Sie folgen Evas Plan, sie ist diejenige die in der Stunde der Verzweiflung rational denkt, in dessen Hände Victor sein Leben gibt. Nach vier Monaten Flucht und dem sicheren Kriegsende beschließen sie wieder nach Dresden zurückzukehren, den Weg treten sie auf eigene Verantwortung an. Ein Bild der Zerstörung bietet sich in München, das sie einige Wochen zuvor noch als halbwegs verschont gebliebene Stadt kennenlernt haben, aber auch hier hat es letzte Kämpfe gegeben.  An das Lebens als "arischer Ausgebombter" hat er sich schnell gewöhnt, offenbart seine Identität allerdings jetzt wo er sich des Kriegsendes sicher sein kann. Als Jude kommt ihm an viele Stellen Sonderbehandlung zu. Eien Reiseerlaubnis der Amerikaner bekommen sie - trotz der Position Klemperers - nicht erteilt.

"Am späten Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf." (Juni 1945) 


Victor Klemeperer (1881 - 1960)

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