Freitag, 16. Januar 2015

Rezension - Mein zweites Leben (Christiane Felscherinow & Sonja Vokuvic)

Das Leben von Deutschlands bekanntesten Junkie 35 Jahre nach "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo"
  • Autoren: Christiane Felscherinow & Sonja Vukovic
  • Verlag: Deutscher Levante Verlag
  • Erschienen: 2013
  • Seitenanzahl: 347
  • Preis: 9,90 Euro (Taschenbuch)
  • ISBN: 987-3-9434737-16-5

Über die Autoren

Sonja Vukovic (*1985) ist Journalistin und arbeitet u.a. für "Stern", "Die Welt" und "Spiegel". Sie begann das Buchprojekt als Volontärin der Springer Akademie.
Christiane Felscherinow (*1962) wurde als Teenager durch das von zwei Stern-Redakteuren veröffentlichte Buch über ihre Kindheit und Jugend im Drogenmilieu bekannt, das die Gesellschaft erschütterte und für Zündstoff sorgte. "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" wurde im Jahr 1981 erfolgreich unter der Regie von Bernd Eichinger verfilmt.

Inhalt

"Wir Kinder von Bahnhof Zoo" war ein Warnsignal für viele Jugendliche, Christiane F. wurde zum Paradebeispiel für ein verpfuschtes Leben. Lange war sie von der Bildfläche verschwunden, nur die Boulevardpresse berichtete hin und wieder über vermeintliche Drogenexzesse. Aber was ist wirklich in den letzten Jahrzehnten in ihrem Leben passiert? Wie geht es ihr heute? In ihrer Biographie 35 Jahre nach dem Buch, das seinerzeit für heftige Furore gesorgt hatte, räumt sie mit den Gerüchten auf, berichtet schonungslos ehrlich wie es ihr ergangen ist.
Misshandelt, einsam und voller Probleme verliert sie sich als Jugendliche im Drogensumpf, prostituiert sich um ihre Sucht zu finanzieren. Ihr Schicksal erschütterte eine ganze Nation.
Heute ist Christiane Felscherinow - ihren richtigen Namen kennt kaum jemand, immer wird sie auf ihre Christiane F.-Vergangenheit reduziert - einsam, verlassen und todkrank. Ihr Drogenkonsum hat ihre Leber fast vollends zerstört, dem Tod ist sie einige Male nur knapp entronnen.
Ihre Biographie ist nicht chronologisch aufgebaut, im Buch ihres Lebens steht jedes Kapitel für eine Station auf ihrer Reise zum Glück - und auch für eine verpasste Chance endlich ein normales Leben zu führen. Denn sowohl in Griechenland, Hamburg, Zürich, Amsterdam oder Berlin konnte sie aus dem Kreislauf aus Drogen, Entzug, Einsamkeit und Enttäuschung nicht ausbrechen. Sie landete im Gefängnis, erfuhr dort Gewalt und kämpfte sich durchs Leben. Trotzdem verlor sie das Sorgerecht für ihren Sohn und floh daraufhin mit ihm nach Holland.
Ihr Leben könnte eine Mischung aus Road Movie und Abenteuerfilm sein, an zu vielen Stellen ist es aber leider ein schlechter Horrorfilm.
Auf der Suche nach Akzeptanz plädiert Christiane Felscherinow für die Anerkennung von Drogenabhängigen in der Gesellschaft. Ihre Biographie ist gespickt mit Sachkapiteln der Co-Autorin über aktuelle Zustände in der Substitutionsmedizin und der Suchtbetreuung. Auch lässt sie darin die Geschichten vom Bahnhof Zoo wieder aufleben und gibt Hintergründe zur Entstehung des Films. Diese lassen den Leser den Werdegang der Christiane F. nachvollziehen und unterrichten in Sachen Drogen und Abhängigkeit. Fragen "Wie können pflegebedürftige Junkies betreut werden?" werden wohl oder übel in absehbarer Zukunft Gesellschaft und Politik beschäftigen, und auch den Leser lassen sie mit einer Menge neuer Denkanstößen zurück.


"Vielleicht ist der Alkohol eine langsame Art, mich umzubringen. Ganz sicher sogar. Natürlich weiß ich, dass es scheiße ist, wenn ich trinke, vor allem in Kombination mit dem Methadon. Beides wirkt atemlähmend, und eines Tages wird es zu viel für meine Leber oder meine Lunge sein. Aber ohne Alkohol und auch ohne mein Gras wäre es für mich hier auf Erden gar nicht mehr zu ertragen. Nicht mehr, seit mein Junge weg ist." (S.42)


Persönliche Meinung

Ich habe lange darüber nachgedacht, was Christiane Felscherinows Gesichtsausdruck auf dem Cover aussagt. Auf mich wirkte sie auf den ersten Blick selbstsicher, ja sogar ein bisschen stolz. Sie hat ein schönes Gesicht mit großen Augen und einem netten Lächeln.  Aber nachdem ich das Buch gelesen habe und ihre Geschichte kenne, wird aus dem Stolz in ihrem Ausdruck plötzlich tiefe Traurigkeit, aus dem Selbstbewusstsein Einsamkeit. Nach Außen hin wirkt sie stark, innerlich ist sie ein Scherbenhaufen. Umso mutiger finde ich es, dass sie so unverblümt und teilweise brutal offen über ihr Leben erzählt, dadurch macht sie sich immerhin sehr stark angreifbar für die Öffentlichkeit.
Aber sie bezieht klar Stellung und rechnet bei der Gelegenheit auch mit der Presse ab, die ihr das Leben immer noch zusätzlich schwer macht. Viele Freunde hat sie durch die Sensationsgier mancher Journalisten verloren. Auch ihre Mutter hat das Vertrauen ihrer Tochter an Zeitungen verkauft; in einer Reportagereihe packte sie über ihre Tochter aus. Umso bemerkenswerte finde ich es, dass Christiane ihre Eltern, besonders ihren Vater, offen in Schutz nimmt, und zugibt einiges in "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" leichtfertig veröffentlicht zu haben.
Der Verlust ihres Kindes hat sie am stärksten aus der Bahn geworfen. Ihr Sohn hatte ihr ein fast normalen Alltag und eine Aufgabe gegeben, als das wegfiel hat sich ihre Situation enorm verschlechtert. Heute hat sie wieder regelmäßigen Kontakt zu ihm, ist stolz wie er sich entwickelt. Er sei der einzige Mensch, der zu ihr halte. Vielleicht hätte sich ihr Leben anders entwickelt wenn sich das Jugendamt nicht eingeschaltet hätte.
Besonders interessant ist der Anhang über die Entstehung des Buches von Soja Vukovic. Auf den letzten Seiten beschreibt sie das Verhältnis und die Arbeit mit Christiane Felscherinow, die das Vertrauen in fremde Menschen eigentlich längst verlernt hatte. Ich stelle mir diese Arbeit unglaublich interessant und emotional vor, es war bestimmt nicht immer einfach auf Christiane Felscherinows Empfinden einzugehen, das durch die schlimmen Erfahrungen und Erlebnisse in der Vergangenheit geprägt worden ist; eine Gratwanderung der Gefühle.
Christiane Felschirinow hat in ihrem zweiten Leben viele glückliche Zeiten erleben können, aber die Schatten ihrer Vergangenheit haben sie immer wieder eingeholt.
Für die Zukunft ist ihr eigentlich nur ein ruhiger und friedlicher Lebensabend zu wünschen.







Christiane Felscherinow hat sich nach der Veröffentlichung dieses Buches und mehreres Interviews in Talksendungen aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Hier geht es zu Christiane Felscherinows offizieller Webseite mit Hintergründen zu ihrem Rückzug und Informationen über ihrer Stiftung, die sich für Suchtkranke und Drogenabhängige einsetzt:  http://christiane-f.com/ 


Interviews mit Christiane Felscherinow:

http://www.n24.de/n24/Mediathek/Sendungen/d/3904970/wie-ging-es-weiter-mit-christiane-f--.html

https://www.youtube.com/watch?v=eGni4Lkw6Ec


Interviews mit Sonja Vukovic:

http://www.deutschlandradiokultur.de/clean-ist-kein-zustand-in-dem-man-christiane-wiederfinden.954.de.html?dram:article_id=264753




















2 Kommentare:

  1. Verdammt! Mein Kommentar ist auf dem Weg verloren gegangen. Nochmal habe ich keine Lust, alles zu schreiben! Daher nur kurz: tolle Rezension! Da habe ich allein durch die Zusammenfassung eine Menge erfahren. Diese Dame wurde durch das Umfeld des Bahnhof Zoo bekannt, das ich selbst nur zu gut kennengelernt habe als ich mit einer Drogenabhängigen zusammen war. Schlimme Leben und tragische Enden kann man dort kennenlernen und muß sich große Mühe geben, nicht selbst am Wunsch helfen zu wollen zu zerbrechen.

    AntwortenLöschen
  2. Danke sehr! Das muss bestimmt schwer gewesen sein, in dieser Ohnmacht zu leben und Menschen so zu Grunde gehen zu sehen..

    AntwortenLöschen