Mittwoch, 23. Dezember 2015

Tagebücher des Victor Klemperer (1944)

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten"

"Heute bin ich durchaus nicht sicher, dass "er" in diesem Jahr erledigt wird. Resistent, Tyrannei, Dummheit sind alle drei grenzenlos." (01.Januar 1944)
Klemperer ist und bleibt Realist, versucht sich so wenig wie möglich von der "vox populi" beeinflussen oder falsche Hoffnungen machen zu lassen. Die Bevölkerung ist gespalten in fanatische Anhänger Hitlers, die sich von der rechten Propaganda und den vermeintlichen Kriegserfolgen befeuern lassen, und in verdeckte Antinazisten. Doch es gibt immer mehr Menschen, die ihm auf offener Straße Worte des Trostes zusprechen.


"In der Kriegsführung mögen sich die Nationalsozialismus verrechnet haben, in der Propaganda nicht. Ich muss mir immer wieder Hitlers Worte ins Gedächtnis rufen, er rede nicht mit Professoren." (19. März 1944)
Die Nationalsozialisten setzen in ihrer Kriegsführung nun verstärkt auf ihre auf  grenzenlos primitive und verwerfliche Stimmungsmache. Kriegsniederlagen werden vertuscht, mit Vergeltungsdrohungen abgewiesen und das "Weltjudentum" für das Kriegsleid verantwortlich gemacht. Das letzte Kriegsjahr erfordert stärkere Propaganda denn je, es gibt Gerüchte über eine Invasion der Alliierten und die Zurückdrängung der deutschen Truppen an den Fronten. Klemperer notiert immer mehr über die LTI, die Sprache des dritten Reichs. Den Fluch der Superlative, Pejorative und der Einfältigkeit des Wortschatzes durch primitive und radikale Steigerung von vorhandenen Worten durchschaut er mit intellektueller Überlegenheit, und benennt anhand von Meldungen aus dem "Reich" oder dem Heeresbericht die Absurditäten des nationalsozialistischen Sprachgebrauchs.


"Es kommt nicht auf den großen Schlag an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein  Schlag auf den Kopf." (08. April 1944) 
 Das Leben der Juden in Deutschland ist gefährdeter denn je. Fast täglich hört Klemperer von Deportationen - bringt die Gestapo sie erst nach Theresienstadt, fahren sie direkt in Tod nach Auschwitz, überleben sie den Aufenthalt auf der Gestapozentrale? Klemperer unternimmt Spaziergänge zum jüdischen Friedhof, wo er mit den Arbeitern "die Lage berät" und Neuigkeiten erfährt. Zeitungen beschafft er sich durch Freunde und Bekannte. Täglich tauscht er sich mit ihnen über die aktuelle Kriegslage aus.

"Man sehe in Berlin keine Sternjuden. Die Gestapo sei damit einverstanden, drücke mindestens beide Augen zu. Der Stern wird nicht getragen oder versteckt. (...) Sei die Gestapo durch eine Denunziation zum Einschreiten gezwungen, dann erhalte der Angezeigte zuerst eine Verwarnung, danach eine Geldstrafe... Bei uns dagegen kostet der verdeckte Stern unweigerlich via KZ das Leben.-" (1. Mai 1944) 
In Zeiten in denen das Zeitung lesen und Radio hören für Juden verboten ist, die Hoffnungen auf ein baldiges Ende überschwellen, und die Propaganda der Nationalsozialisten Niederlagen verschleiert, ist es schwer, Erfundenes von Wahrheit zu trennen; Gerüchte von tatsächlichen Ereignissen. Die vox populi neigt zu Übertreibungen, die vox judae, überschwänglich ein baldiges Ende herbeisehnend dazu, nationalsozialistische Gräueltataten gegenüber Juden überspitzt darzustellen oder vermeintliche Erfolge vorschnell als Indiz für ein baldiges Kriegsende zu werten. Klemperers Herz sehne das Ende des Leidens herbei, der Verstand aber könne nicht daran glauben. Seine Rationalität bewahrt ihn vor allzu großen Enttäuschungen.


"Wie viel Arbeit werde ich mit einem Auge leisten können. Und wie viel Zeit bleibt mir? Ursache wahrscheinlich Zucker - daher der qualvolle Durst in der letzen Zeit. Hergang: ein minimaler aber doch ernster Schlaganfall. Ich habe gehofft, an der Angina auf eine anständige Weise zu sterben. Was macht der zweite Schlaganfall aus mir? Einen Haufen Blödsinn im beschissenem Bette, wie aus Grete, wie aus Vater? Soll sich Eva vor mir ekeln oder mit mir plagen? Aber ich habe kein Veronal, ich habe keinen Mut, und ich muss ja das 3.Reich zu überleben suchen, damit Evas Witwenpension sichergestellt wird." (6. Mai 1944)
Klemperer leistet seit dreizehn Monaten Fabrikdienst - aktuell in einer Papierverarbeitungsfirma. Das Pensum schafft er längst nicht, das Abzählen fällt ihm schwer. Die stumpfsinnige und eintönige Arbeit ist reine Zeitverschwendung für den Professor, der immer noch seinen philologischen Studien nachgeht und intellektuell anspruchsvolle Arbeit gewohnt ist. Zudem folgt nach einem leichten Schlaganfall in Folge seiner Angina eine einsetzende Augenlähmung, die ihm selbst den verbliebenen Rest seiner philologischen Tätigkeit zu nehmen droht. Klemperer ist aussichtsloser denn je, in der Fabrik muss er Nachtdienst übernehmen. Schlafmangel, Augenleiden und Herzleiden, das sich durch das regelmäßige beschwerliche Kohlenbeschaffen in der Stadt nur verschlimmert, rauben ihm jegliche Perspektive. In seinem Tagebuch schreibt er offen über Selbstmord.


"Ob nicht das ganze in der Hauptsache zur Ablenkung und Beruhigung des deutschen Publikums "aufgezogen" ist, und dabei unsicherer aufgezogen ist, wie es früher üblich war? oder sehe ich das zu rosig. Die Schlacht in der Normandie schwankt, in Italien kommt England rasch vorwärts, in Südrussland ist es immer noch still, in Finnland gewinnen die Russen Boden- welches Fazit sollte man ziehen? Ich urteile je nach Stimmung, alle paar Stunden anders. -" (19. Juni 1944)
Der Friedhof wird zur Nachrichtenzentrale und wichtigsten Anlaufpunkt für die Beschaffung von Neuigkeiten. Aber jeder Gang nach draußen mit seinem Judenstern bedeutet für Klemperer eine große Überwindung. Nur ein Bespiel für die Grausamkeit gegenüber den Juden: Neben dem Judenhaus wurde ein Lager für russische Gefangene errichtet, und erst kürzlich wurde eine ganze Familie nach Theresienstadt deportiert weil die Tochter ein Verhältnis mit einem Häftling führte.
Klemperer lässt sich auf Grund seines Herzleidens bei seinem Arzt von Arbeitsdienst befreien, stellt einen Antrag auf komplette Dienstentpflichtung. Er klammert sich an die Hoffnung, so mehr Zeit für seine Studien zu haben, doch der Zweifel an der Sinnhaftigkeit und Qualität seiner Arbeit bleibt.


"Seit gestern von dem Gefühl beherrscht: vor dreißig Jahren! Daran schließt sich zuerst immerfort die Betrachtung des Altseins, Am-Ende-Stehens, Keinen-Anspruch-mehr-Haben. Aber es fehlt mir doch so ganz, was ich mir immer als Reife des Alters vorgestellt habe, ich bin weder satt, noch müde, noch irgendwie dem Letzten gegenüber ruhig. Nur absolut skeptisch. - Den Krieg anlangend, so scheint es mir eine grausame Ironie des Schicksals, dass die Russen Ostpreußen gegenüber genau da stehen, wo sie am 1.8.14 standen. Wer soll ihnen heute noch ein Tannenberg bereiten? Sieht man nur auf die Heeresberichte der allerletzten Tage: Normandie, Augustuswo, Warschau, dazu seit gestern Beskidenpaß und Schwanken der Türkei - so muss man sich sagen, dass der Krieg nur noch Wochen dauern kann. Liest man dann die Zeitungsartikel, Reden, Erlasse, so ist auf Jahre hinaus vorgesorgt, die Tyrannei unerschüttert und unerschütterlich, der "Endsieg" trotz aller momentanen "Krisen" - Krise ist das aktuelle Beschönigungswort für "Niederlage" - absolut sicher. Und da diese eiserne Stirn und dies einhämmernde Wiederholen selbst mich beeinflusst, wie sollte es die Masse des Volkes unbeeinflusst lassen? Ich sage mir immer wieder: Sie haben sich so lange gegen alle Natur und Berechnung gehalten, warum nicht noch ein Jahr länger?" (02. August 1944)
Die Gerüchte über die Invasion der Aliierten haben sich bestätigt, die Deutschen Truppen schlagen mit der Vergeltungswaffe "V1" zurück. Die Nationalsozialisten propagieren anhaltende Kriegserfolge, die berichten Zurückdrängung der deutschen Fronten. Klemperer vergleicht die propagandistische Berichterstattung im "Reich" regelmäßig mit der anderer Zeitungen, um die Situation möglichst realistisch einschätzen zu können. Er hat die Vermutung, Deutschland halte die Stellungen an der Ostfront nur so kämpferisch aufrecht, damit es bei einer Eroberung durch die Alliierten nicht den Russen in die Hände falle. Währenddessen wächst das Misstrauen der Juden untereinander, jedes kleinste Vergehen kann sie das Leben kosten.
Am 24.Juni ist Klemperer nach vierzehn Monaten vom Arbeitsdienst befreit worden. Doch die Erleichterung überschattet die dunkle Vermutung, der Arzt habe ihn nur freigestellt, weil er keine lange Lebensdauer für ihn voraussehe....


"Evas Geburtstag. Meine Hände wieder ganz leer, nicht einmal eine Blume." (12. Juli 1944) 
Geburtstage, Hochzeitstage, Feiertage werden von den aktuellen Kriegsereignissen in den Hintergrund gerückt. Klemperer notiert überwiegend die aktuellen Kriegsmeldungen und neue Deportationen. Statt persönliches Befinden oder Alltagsleben protokolliert er die Gespräche über das Fortschreiten der Invasion oder die Fliegerangriffe auf Deutschland akribisch.
Er verzeichnet auch eine Veränderung der Todesanzeigen: Während früher der Heldentod eines jeden Soldaten in einer eigenen Anzeige glorifiziert wurde, werden nun bloß noch die Namenslisten der Gefallenen gedruckt.


"Ich will bis zum letzen Augenblick weiter beobachten, notieren, studieren. Angst hilft nichts, und alles ist Schicksal. (Aber natürlich packt mich doch von Zeit zu Zeit die Angst. So gestern im Keller, als die Amerikaner brummten)." (22. Juli 1944) 
Mit dem Schreiben seines Tagebuchs bringt er nicht nur sich selbst, sondern auch jegliche Personen, die er darin namentlich erwähnt, in Lebensgefahr. Die Manuskriptseiten bringt Eva zwar regelmäßig zu einer arischen Bekannten, doch auch dort sind sie im Falle eines Fliegerangriffes genauso gefärdet. Aber Klemperer gibt das Dokumentieren nicht auf, das Tagebuch ist sein Art, Widerstand zu leisten.
Es gibt mittlerweile Gerüchte um die Auflösung von Mischehen und die anschließende Deportation jüdischer Ehemänner in KZs.  Dresden ist jetzt von regelmäßigem Fliegeralarm betroffen, ein längerer Aufenthalt im Luftschutzkeller war aber noch nicht notwendig. Bis zum Oktober wird Dresden von Fliegerbomben verschont bleiben als eine der wenigen so lange verschont gebliebenen Großstädte Deutschlands.


 "Also Seuchenverdacht. Aber das Gesundheitsamt gibt nichts bekannt. Wer den Verdacht ausspräche wäre Defätist. Auch ist es jetzt, wo Tod an der Front und über den Städten wütet, einerlei, ob noch ein apokalyptischer Reiter zu den anderen stößt. Auch fehlt es an Ärzten, Platz in Krankenhäusern und Arzneien." (30. November 1944)
Im Judenhaus sind gleich zwei Bewohner einer Seuche zum Opfer gefallen. Offiziell heißt es, sie seien an einer septischen Angina gestorben, da die Folgen der Äußerung eines Seuchenverdachts für die Bewohner unberechenbar wären. Das Haus muss desinfiziert werden um die Gefahr einer Ausbreitung einzudämmen. Über den Tod der zwei Freunde schreibt Klemperer nüchtern und distanziert, gar erschreckend kalt. Er versucht sich von deren Schicksal nicht berühren zu lassen, um sich selbst zu schützen.


"Das einzige wesentliche Datum war für mich der 24.Juni. Der Tag meiner Entpflichtung. Seitdem bin ich die Fabriksklaverei los, seitdem habe ich - erst fiel's mir schwer, jetzt bin ich's wieder gewohnt - ausgiebiger für mich arbeiten können. d.h.: aufs Geratewohl Lektüreschreiben sub specie LTI. Aber seit 24.Juni stehe ich auch sehr bewusst unter doppeltem Todesurteil: Wenn ich nicht sehr herzleidend wäre, hätte Katz diese Dienstentpflichtung nicht beantragen und nicht durchsetzen können (freilich half wohl auch die Augenlähmung ein bisschen mit, die sich inzwischen fraglos ein wenig gebessert hat.) Sodann! Wenn es zur Evakuierung Dresdens kommt, würde mich als Arbeitsfähig irgendwo schanzen müssen, während ich nutzloser Judengreis fraglos beseitigt werde. der Zukunft stehe mit geringer Hoffnung und stumpf gegenüber. es ist sehr fraglich wann der krieg zu ende sein wird (obschon im Augenblick die deutsche Chance bei stockender Westoffensive und verlorenem Budapest wieder gesunken ist). Und es ist mir noch fraglicher, ob ich aus dem Frieden nicht etwas werde herausholen können, da ich doch offenbar am Ende meines Lebens stehe. - Irgendwie mich mit dem Todesgedanken abfinden zu können vermag ich nicht; religiöse und philosophische Tröstungen sind mir vollkommen versagt. es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist die Versenkung in Studium, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck. Dunkel drückend ist auch meine Finanzlage: Bis zum April, bestimmt nicht länger, reicht mein Bankkonto. Aber diese Geldsorge bedrückt mich wenig. Sie scheint mir klein, wo ich mich immer, und zweifach, dreifach, in unmittelbarer Todesnähe sehe. Sehr enttäuschend geht das Jahr zu Ende. Bis in den Herbst hinein habe ich, hat die ganz Welt es für sicher gehalten, dass der Krieg bis Jahresende fertig sei: Jetzt ist das allgemeine Gefühl und auch meines: vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht in zwei Jahren. Zweiter Silvesteralarm, ohne Keller  22.15 Uhr bis 22.30 Uhr. Wir wollten gerade schlafen gehen." (31. Dezember 1944) 

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