Dienstag, 15. Dezember 2015

Tagebücher des Victor Klemperer (1943)

"Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten."

"Aber im Innersten bin ich recht hoffnungslos. Ich vermag mir gar nicht vorzustellen, wie ich noch einmal sternlos als freier Mann und in leidlicher Wirtschaftslage leben könne." (1. Januar 1943)
Das Ende des Kriegs liegt fern - Klemperer hat sich mit seinem Leben unter dem Nationalsozialistischen Terror so weit arrangiert, dass er sich einen Alltag in Frieden nicht mehr vorstellen kann.


"Es ist gar nicht zu sagen, wie sehr mir der Abreißkalender fehlt. Die Zeit steht still." (3. Januar 1943) 
Die Papiernot ist so groß, dass nun auch Kalender gestrichen werden. Die Stunden und Tage vergehen für Klemperer nun noch langsamer, unerträglicher. Währenddessen fordert Goebbels die Menschen zum absoluten Patriotismus auf, und plädiert für die Vereinigung von Nationalismus und Religion.


"-die Tage vergehen rasch und einförmig. Viele Gedanken absorbiert das Essen - Kartoffelnot und Hunger und Müdigkeit. Stagnierender Krieg." (13. Januar 1943) 
Die vox populi scheint sich zu ändern, man wünsche sich ein rasches Ende des Krieges zur Errettung der Juden. Auch die LTI (Sprache des Dritten Reichs) ändert sich: Statt vom "Sieg" spricht man jetzt vom "aushalten".


Juden, ohne den Druck des Antsemitismus oder und vor allem ohne die Furcht vor diesem Druck werden in ihrem gesamten Fühlen und Denken andere Menschen sein -  sie werden aufgehört haben, Juden zu sein sie werden ganz zu den Nationen gehören, in deren Mitte sie leben." (28. Jnuar 1943)
Die Unsicherheit treibe die Juden in den Internationalismus, in den Zionismus und auf der anderen Seite hinter die Mauern der Ghettos.
Außerdem machen es die Undurchschaubarkeit und Ungenauigkeit der Judengesetze den Juden leicht, gegen die Gebote zu verstoßen. Immer wieder kommen neue hinzu ohne die Betroffenen darüber zu informieren. "Irgendwas wird er wohl gemacht haben" - Verhaftungen geschehen ohne ersichtlichen Grund.
Die Sommeroffensive scheitert, die Front wird verkleinert. Im Lebensmittelgeschäft kommt man Klemperers oft entgegen. Auch die jüngeren Hitlerjungen sind meist freundlich.


"Ich lebe noch ich lebe noch ich lebe noch!" Darauf schränkt sich auch mein Empfinden; je nach Stimmung, von Stunde zu Stunde wechselnd, liegt der Ton auf "lebe" und "noch"." (28. Februar 1943) 
Fast alle Juden werden evakuiert und in Arbeitslager deportiert. Klemperer als in Mischehe mit einer Arierin lebend ist nicht betroffen.
Goebbels hat vor zehn Tagen den totalen Krieg erklärt.


"Es ist das Gute am Übermaß an Sorgen, dass man gegen sie, jedenfalls gegen jede, die nicht unmittelbar drängt,erstaunlich abstumpft." (04. März 1943) 
 Es geht das Gerücht um, Mischehen würden geschieden werden. Klemperer berät die Lage mit Bekannten auf dem jüdischen Friedhof: Entweder die Frauen würden Jüdinnen, und beide würden evakuiert, oder die Frau würde sich scheiden und nur der Mann müsste in ein Lager. In beiden Fällen würden Victor und Eva getrennt werden. Eva soll lieber retten was zu retten ist.


"Bei allem Variieren zermürbende Stagnation und dasselbigkeit. Immerfort Kämpfe im Osten,Rückzug an der einen, glückliche Gegenoffensiven an der anderen Stelle, immerfort Ruhe im Westen, immerfort Gerede von innerer Zuspitzung, immerfort Ruhe und Terror -  Ruhe der Bevölkerung, Terror der Regierung. Immerfort extrem optimistische und extrem pessimistische Stimmungen der Juden." (10. März 1943)
Klemperer befürchtet in einer neuen Unterkunft  zusammengedrängt mit anderen Mischeheleuten leben zu müssen. Außerdem fürchtet er sich vor dem Arbeitsdienst und der Unterbrechung seines Studiums. Auch die Nahrungsmittelknappheit sorgt ihn sehr, die Vorräte würden keinen Monat lang ausreichen.
Der Preis für ein Pfund Kaffee liegt auf dem Schwarzmarkt bei 200 Mark. Niemand glaubt mehr an den Wert des Geldes nach dem Krieg.


"Es erschüttert mich einigermaßen. es ist doch Todesgewissheit in sehr absehbarer Zeit. Ich habe in früheren Jahren gehofft, ich würde "später" dem Tod philosophischer gegenüberstehen; nun bin ich einundsechzig Jahre und so unruhig und bedrückt wie je. (...) Es fällt mir schwer, so weiterzuarbeiten, als wenn mir Zeit bliebe, etwas zu vollenden. Aber Arbeiten ist das beste Vergessen." (15. März 1944)
Klemperer hat eine Verengung der Herzgefäße, eine Angina, diagnostiziert bekommen. Er sieht sich jetzt auf eine andere Weise mit dem Tod konfrontiert. Er ist oft müde und erschöpft, das fast tägliche  und oft nicht erfolgreiche Kohlebeschaffen und die Fußwege strengen ihn an.


"Jede Stunde kann es mich treffen. Und dann in de Zelle sitzen und von Minute zu Minute auf den Henker warten, vielleicht einen Tag, vielleicht Wochen, vielleicht erwürgt mich hier auch niemand ("erhänge ich mich nicht"), sondern ich sterbe erst auf dem Weg ins KZ ("bei Fluchtversuch erschossen", oder in Auschwitz selber an "Insuffizienz des Herzmuskels. Es ist so entsetzlich, das in allen Einzelheiten auszudenken im Bezug auf mich, im Bezug auf Eva. Ich dränge es immer wieder zurück, will jeden Tag, jede Stunde ausnutzen.Vielleicht überlebe ich doch."            (25. April 1943)
Es ist Ostersonntag, Klemperer notiert im selben Einrag die Verhaftungen und den Tod von Mitarbeitern. Er gibt sich fatalistisch, doch eine winzige Hoffnung behält er. Die wirklichen Todesursachen der Verhafteten gelangen nicht an die Öffentlichkeit, Morde werden verschleiert, das Volk nicht beunruhigt. Die Judenheit stumpfe immer weiter ab und gewöhne sich an die Unterdrückung: die Verhafteten seien selbst schuld, wenn sie sich nicht streng an die Einhaltung der immer neuen Gesetze sorgten.


"Niemand kann aus der Geschichte lernen weil sie sich nie wirklich und ganz ohne Variante wiederholt. Vielleicht ist Geschichtskenntnis geradezu schädlich: sie macht befangen.Vielleicht ist es mit dem Geschichtswissen wie mit der Askese: beide machen unfrei." (22. Juni 1943)
Klemperer ist zum Arbeitsdienst in einer Tee- und Heilbäderherstellungsfirma einberufen worden. Der Stumpfsinn der eintönigen Beschäftigung ist für ihn eine Geistlosigkeit, er trauert um die verlorene Zeit; sein Stundenlohn beträgt nach den Abzügen 35 bis 40 Pfennig.


"Seit dem 9.10.34 sagte ich an jedem Geburtstag 'nächstes Jahr sind wir frei' es stimmte nie! Diesmal sieht es so aus als müsste das Ende nah sein. Aber sie haben sich so oft, vom Röhmfall an, gegen alle Naturmöglichkeiten gehalten. Warum sollten se nicht noch weitere zwei Jahre Krieg führen und morden? Ich habe keine Zuversicht mehr. Inzwischen werden wir nun ins dritte Judenhaus ziehen und diesmal den Kopf in die engste Schlinge stecken. In der Zeughausstraße wird der zusammengestopfte Judenrest in ein paar Minuten erledigt, wenn es der Gestapo passt." (9. Oktober 1943)
Eine verordnete Umsiedelung bereitet Klemperers große Sorgen. Erneutes Arrangement mit neuem Mitbewohnern, kleinerer Lebensraum und größere Angriffsfläche für die Gestapo. Daneben die große Lebensmittelnot - Kartoffeln sind das einzige Nahrungsmittel das Victor und Eva durch Betteln und mit den wenigen Marken beschaffen können. Die jüdische Kleiderkammer ist verstaatlicht worden, Klemperer muss einen schriftlichen Antrag darauf stellen, seine zerschlissenden Pullover, Socken und Hose ersetzen zu lassen. Außerdem ist Eva leidet schwer an Fieber und Ermüdung. Sie muss für ein paar Tage ins Krankenhaus, erholt sich dort gut. Aber die Angst Victors, ihr könne etwas passieren und er ohne arische Ehefrau völlig schutzlos zu sein, quält ihn sehr.
Der jüdische Friedhof wird für ihn zur Nachrichtenzentrale, überall sonst die Gefahr zu groß, dass Informationsaustausch als "Greuelpropaganda" aufgefasst wird.

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