Dienstag, 9. Juni 2015

1913 Der Sommer des Jahrhunderts - Florian Illies (Rezension)

Ein großes Zeitdokument der Intellektuellenszene im Sommer vor der Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts
  • Autor: Florian Illies
  • Verlag: Fischer
  • Preis: 10,99 Euro 
  • ISBN 978-3-10-036801-0

Über den Autor

Florian Illies (*1971) ist Gründer der Kunstzeitschrift "Monopol" und schrieb beriets für Zeitungen wie die Zeit und FAZ, unter anderem als Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Er hat Kunstgeschichte und Neuere Geschichte in Bonn und Oxford studiert, und ist mit mehreren Preisen für seine literarische und journalistische Arbeit ausgezeichnet. Neben seinem ersten Buch mit historischen Hintergrund "1913", veröffentlichte Illies "Generation Golf", "Anleitung zu Unschuldigsein", Generation Golf II" und "Ortsgespräch".


Inhalt

In einer Ambivalenz aus sicherer Wahrung in Kriegsfernheit und ideologischer Wappnung für eine Katastrophe bewegt sich das Europa des Jahres 1913.
Während der Aquarellmaler und politisch durchaus interessierte Adolf Hitler von Wien nach München zieht, kämpft Franz Kafka im fernen Prag mit sich selbst und der so fremden und unkontrollierbaren Zuneigung zu Felice Bauer. Europa ist in Aufbruchsstimmung, die alles verklärende und idealisierende Epoche der Romantik ist endgültig vorbei, der Expressionismus macht Platz für Ecken und Kanten sowohl in der Kunst als auch in der Dichtung und der Musik. Thomas Mann schreibt den "Tod in Venedig", wenig später stirbt der Verlegerssohn Gerhart Fischer in der Italienischen Stadt, Freud stellt die Theorie vom Vatermord auf, und wird gleich darauf von seinem Schüler C.G. Jung erdolcht. Eine Nebenerscheinung des Stromes der neuen Zeit ist die Depression, und die "Neurasthenie", die viele Intellektuelle in den Wahnsinn reißt. So auch Maler Oskar Kokoschka, der vollkommen besessen von der Witwe Gustav Mahlers sein größtes Meisterwerk nach ihrem Vorbild erschafft; und Georg Trakel, der allabendlich auf Kokoschkas Bierfässern sitzt, und sich aus Sehnsucht nach seiner Schwester verzehrt. Depression und Verzweiflung bestimmen die Dunkle Dichtung vieler Literaten dieser Tage, so auch Trakels. Aber dieses Jahr bietet auch feurige Liebesgeschichten, wie das Verhältnis der frisch getrennten, orientalisch angehauchten Jüdin Else Lasker-Schüler mit dem vom Angesicht des Todes gezeichneten Pathologen Gottfried Benn; beide könnten sie unterschiedlicher nicht sein, verfallen einander in einer kurzen aber intensiven Liebesbeziehung, die in ihrer Ausfechtung in der Poesie ihres Gleichen sucht. Liebe, Verzweiflung und Todessehnsucht ziehen sich wie ein roter Faden durch die persönlichen Schicksale der Intellektuellen in Europa, und reißt viele in den Wahnsinn ihrer eigenen Verzweiflung.
Auch die nachfolgenden Pioniere der Weltliteratur wachsen in dieser Zeit des Strebens nach der Moderne und des Scheiterns am Ungewissen auf; so schreibt der vierzehnjährige Berthold Brecht aus Langeweile und Liebeskummer kleine Gedichte, und der achtzehnjährige Ernst Jünger setzt sich im August in Winterkleidung ins Treibhaus der heimischen Villa um seinem Traum von Afrika näher zu kommen, während Albert Schweitzer nach seiner Promotion als Arzt bereits sein Urwaldkrankenhaus aufbaut. Stalin besucht Wien, während Hitler im Männerhaus Sehenswürdigkeiten zeichnet, und Eva Braun wird im Mai bereits ein halbes Jahr alt.  Florian Illies unternimmt eine eindrucksvolle und mitreißende Reise durch die Ruhe vor dem Sturm, das Jahr bevor die große Urkatastrophe des 20.Jahrhunderts Europa erschüttern sollte.


Eigene Meinung

Es ist eine seltsame undefinierbare innere Zerrissenheit zwischen Zunkunftsfantasie und Todessehnsucht, die die Lebenswirklichkeiten der Intellektuellen im Jahrhundertjahr 1913 trennt und vereint. Florian Illies erzählt ihre Geschichten mit so viel Authenzität, Charme, Witz und bitterer Vorausschau, als schreibe er einen Kitschroman. Die Stimmung scheint zwischen einer Art Weltfremdheit und düsterer Vorahnung zu wanken, denn alles scheint möglich in dieser Zeit, nichts jedoch planbar. Man ist der Euphorie genauso nah wie der Depression, die verklärte Idylle der Romantik wird endgültig verdrängt von der tosenden Zukunftsversiertheit der Moderne. Fortschritt und Rückschritt sind sich so nah wie nur selten in diesem impulsiven Jahr.
So klar Illies die beeindruckend überraschenden Querverbindungen zwischen Literatur, Musik und Kunst auch zeichnet, bleibt doch immer Raum für Spekulation. Es sind merkwürdige Zusammenhänge und folgenreiche Begegnungen so kurz vor dem ersten Weltkrieg, in einer Zeit, in der die Richtung die die europäische Geschichte nehmen würde, noch unklar war. Ein einmaliges Portrait der Europäischen Intellektuellen, eingeholt von Expression und Moderne voll Liebe, Leidenschaft und Verzweiflung gleichermaßen.
Ein großes Buch; Florian Illies beschriebt nur 12 Monate, und doch fängt er das Gefühl einer ganzen Zeit ein. Ein Epochenjahr wird zum Epochenroman.



Hier geht es zu der Rezension von Florian Illies' erstem Buch "Generation Golf"!

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